Fleischessünde (German Edition)
Keiner von beiden wusste, wo sich ihre Partnerinnen befanden. Sie waren fest entschlossen, beim großen Treffen Näheres über ihren Aufenthalt zu erfahren. Denn sie waren überzeugt, dass einer der Unterweltfürsten für das Verschwinden von Roxy und Naphré verantwortlich war. Wo, wenn nicht hier, wo alle Mächtigen der Unterwelt versammelt waren, sollte man herausfinden können, was hier gespielt wurde?
Übereinstimmend hatten Alastor und Dagan berichtet, dass es beim Verschwinden der beiden Frauen weder Kampfspuren gegeben hatte noch irgendwelche Hinweise, die auf das Wirken übernatürlicher Kräfte deuteten. Beinahe sah es so aus, als wären die beiden Frauen ihren Entführern freiwillig gefolgt, was jedoch vollkommen widersinnig erschien.
War die Geduld eine der wenigen Tugenden, die Malthus auszeichneten, war es bei Sutekh seine Pünktlichkeit. Er war schon angekommen, was als Gastgeber des Treffens sein gutes Recht, aber auch seine Pflicht war. Sein Zelt stand ein wenig abseits von den anderen, die er zur Aufnahme der in Kürze zu erwartenden Gäste hatte errichten lassen.
Sobald das Boot angelegt hatte, erloschen die Flammen auf dem Fluss. Das Wasser war ruhig und klar wie zuvor.
Alastor und Dagan gingen zuerst an Land, dann folgten Malthus und zuletzt Calliope. Malthus war im ersten Augenblick ein wenig erstaunt zu sehen, wie Dagan Calliopes Hand nahm und sie kurz freundschaftlich drückte. Aber so erstaunlich war es auch nicht, teilten beide doch die Sorge um Roxy.
„Du weichst keinen Schritt von meiner Seite“, ermahnte Malthus sie.
„Da kannst du sicher sein.“
Calliope hatte gute Gründe, auf Malthus zu hören. Vielleicht konnte sie hier ein oder zwei Verbündete finden, aber mit Sicherheit traf sie unter den Anwesenden auf mehr Feinde als Freunde. Die meisten der Teilnehmer waren durch den Austausch von Sicherheitsgeiseln geschützt. Sie konnte auf eine solche Absicherung nicht hoffen. Die Garde hatte sich von ihr losgesagt. Ohne Malthus war sie allein auf verlorenem Posten, und das wusste sie.
„Die Geiseln werden ja wohl nicht hierhergebracht“, meinte sie dann.
Malthus ahnte, dass sie dabei an Roxy und Naphré dachte. „Nein“, antwortete er mit einem nachsichtigen Lächeln, „das würde die Sache dann doch zu einfach machen, nicht wahr?“
Der Austausch der Geiseln war ein hoch kompliziertes Unterfangen. Da hier alle Fürsten der Unterwelt versammelt waren, genügte ein einfacher gegenseitiger Austausch nicht, um die Sicherheit der Teilnehmer zu garantieren. Stattdessen funktionierte das System so, dass einer seine Geisel zu einem anderen Teilnehmer schickte, dieser dann seine zu einem Dritten und so fort. So war dafür gesorgt, dass, sollte einer Geisel etwas zustoßen – was bei der Skrupellosigkeit und Hinterhältigkeit der überwiegenden Mehrheit der Unterweltgötter und -dämonen durchaus nicht auszuschließen war –, eine Art Dominoeffekt ausgelöst würde, der in einem allgemeinen Gemetzel enden musste, an dem aber niemand wirklich interessiert sein konnte.
Calliope stieß Malthus an. „Schau mal“, sagte sie leise und zeigte auf zwei Seelensammler, die gerade dabei waren, den Bleibehälter, der zuvor in Sutekhs Audienzsaal gestanden hatte, aus Sutekhs Zelt herauszutragen.
Sie stellten den Sarkophag auf einen Platz, der in der Mitte zwischen Sutekhs Zelt und den Zelten der anderen freigelassen worden war, öffneten den Deckel und hoben vorsichtig die Körperteile heraus, die in der Kiste verwahrt waren. Dann ordneten sie diese sorgfältig auf einem steinernen Tisch so an, dass jederTeil den Platz einnahm, den er innehatte, wenn der Körper vollständig war. Sutekh, der als Gastgeber das Privileg hatte, nach seinem Ermessen die Vorbereitungen zu treffen, hatte all das arrangiert.
Ein zweiter Bleibehälter wurde darauf herausgetragen und geöffnet, und der Vorgang wiederholte sich in derselben andächtigen Sorgfalt.
„Wo kommt das denn her?“, fragte Malthus Alastor.
„Frag mich bitte etwas Leichteres.“
Am Schluss lagen nun dreizehn Teile von Lokans Körper beieinander. Kopf, Hände, Füße, Arme, Oberschenkel, Unterschenkel, Rumpf und Becken. Das Einzige, was fehlte, war Lokans Herz.
Anschließend trat Sutekh aus seinem Zelt.
„Ist das dein Vater?“, fragte Calliope.
„Ja“, antwortete Malthus. „Er tritt heute in Gestalt Lokans auf. Er wechselt seine Erscheinung je nach Laune jeden Tag aufs Neue. Keiner von uns weiß, wie er wirklich
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