Fleischessünde (German Edition)
sie merkte, dass er sie angriff, würde es für jede Gegenwehr schon zu spät sein.
Einen Verfolger im Nacken zu haben, war schon schlimm genug. Aber einen wie diesen … Erinnerungen stiegen in ihr auf, die sie schnell wieder unterdrückte. Sie schlummerten im hintersten Winkel ihres Unterbewusstseins, und da sollten sie auch bleiben.
Wo konnte er stecken? Dort bei der offenen Schranktür? Nein, bestimmt war er näher, wahrscheinlich nicht einmal eine Armlänge von ihr entfernt. Es war nicht auszumachen. Ringsherum war es dunkel. Nur ein schwacher Schein drang von der Straße durch einen Spalt der schweren Vorhänge ins Zimmer.
In einem Punkt konnte sie sicher sein. Er war ihr Feind, und er war jederzeit imstande, ihr den Garaus zu machen. Die Chancen standen schlecht. Calliope fasste sich ein Herz und beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.
„Ich weiß, dass du hier bist, Reaper“, sagte sie ruhig. Sie erwartete keine Antwort. Vielleicht genügte es auch, ihn damit zu verblüffen, dass sie von seiner Anwesenheit wusste, sodass er sich fragte, wie weit ihre Kräfte gingen. Wenn sie ihm körperlich schon hoffnungslos unterlegen war, konnte sie immer noch mit ihrem Verstand punkten. Typen seines Kalibers, egal ob sterblich oder nicht, waren für gewöhnlich nicht besonders klug.
Sie blickte auf den nackten Körper, der mit ausgebreiteten Armen vor ihr lag, das Handtuch, mit dem er aus dem Badezimmer gekommen war, neben sich. Der Kopf war auf die Seite gerollt, die Augen waren geschlossen, und der Mund stand offen. Die Beine waren in einem grotesken Winkel abgeknickt. Kurz: Der Hohepriester der Setnakhts bot alles andere als einen erhebenden Anblick. Calliope stand allerdings auch nicht der Sinn danach, den Reverend in würdigerer Weise zu betten. Er war kein Mann gewesen, der diese Mühe verdiente.
„Wie kommst du darauf, dass hier noch jemand ist?“
Calliope fuhr mit dem Kopf herum. Ihre Worte hatten überraschenderweiseden Reaper dazu gebracht, sich bemerkbar zu machen. Auch der Klang seiner Stimme überraschte sie. Sie klang ein wenig rauchig, aber samtweich und kam ihr irgendwie bekannt vor. Im Stillen hatte sie gehofft, dass sie sich getäuscht hatte. Doch er widersprach nicht und schien wirklich eines von Sutekhs Geschöpfen zu sein. Jede andere Kreatur wäre ihr lieber gewesen.
Wieder erschrak sie, als seine Gestalt sich allmählich aus den Schatten der Dunkelheit herausschälte. Er hatte eine makellose athletische Figur, schmale Hüften und breite Schultern. Er trug schwarze Jeans, schwarze Stiefel und ein dunkles, blaugraues Hemd. Der Schock kam, als sie ihm ins Gesicht schaute. Es war der Typ, den sie in der Disco irrtümlich für einen Sterblichen gehalten und in den Keller gezogen hatte. Es kostete Calliope einige Mühe und die Mobilisierung ihrer in jahrelangem Training angeeigneten Selbstbeherrschung, die Fassung zu bewahren.
Er trat ein Stück näher, sodass sie ihn im schmalen Lichtstreifen, der nun auf ihn fiel, genauer betrachten konnte. Er war ohne Frage ein Kind der Nacht. Das glatte, halblange Haar war annähernd schwarz. Er hatte eine gerade Nase mit der Andeutung eines Höckers auf dem Nasenrücken, eine schmale Narbe, die sich vom Kinn bis zur Unterlippe erstreckte und mit einem hellen Strich seinen dunklen Dreitagebart unterbrach, und gerade, fast waagerechte Augenbrauen. Das Auffälligste an ihm waren jedoch seine Augen. Ihr intensives, helles Grau funkelte lebendig zwischen den dichten, langen Wimpern.
An jedem Ohr trug er zwei Ohrringe, am rechten kleinen Finger einen schmaleren sowie am linken Daumen einen breiten Platinreif. Schon der erste Eindruck war für Calliope sehr aufschlussreich. Ganz offensichtlich liebte dieser Mann schöne und teure Dinge und war kein Kostverächter, was die Annehmlichkeiten der Welt der Sterblichen anging.
Auch wenn sie wusste, dass die Seelensammler zur grausamsten Spezies der an fragwürdigen Charakteren ohnehin reichen Unterwelt gehörten, musste sie sich eingestehen, dass dieserMann von einer seltenen männlichen Schönheit war. Calliope hatte Gewissensbisse, dass sie so etwas überhaupt denken konnte. Aber ihre Scham schlug schnell in Wut um. Sie war wütend auf ihn und wütend auf sich.
Auch das gehörte zu ihren antrainierten Selbstschutzmechanismen: Du überwindest deinen Gegner eher durch Wut als durch Angst und eher durch List als durch Wut .
So entschloss sie sich, einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn es auch schwerfiel.
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