Fleischessünde (German Edition)
eines Supernaturals genommen hatte, war schlimm genug. Dass es nicht nur irgendeiner war, sondern ein Seelensammler aus Sutekhs Reihen, war noch schlimmer. Wäre sie irgendeine unbedeutende Rekrutin gewesen, hätte man über ihren Fehltritt vielleicht noch hinweggesehen. Aber das war sie nun wirklich nicht. Man würde hart mit ihr ins Gericht gehen. Sie hatten allen Grund dazu.
Calliope spähte angestrengt in die Runde. Auch wenn sie wusste, dass das Fort der Garde perfekt abgeschirmt war, war sie sich nicht sicher. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie nirgends vollkommen sicher sein konnte. Dazu kam ihre maßlose Erschöpfung. Die halbe Stunde Schlaf vor ihrem Aufbruch – und die war dank ihres Traums noch unruhig genug gewesen – war der einzige Schlaf, den sie seit unzähligen Stunden bekommen hatte. Wie viele waren es? Sechzig? Siebzig? Sie wusste es selbst nicht mehr. Irgendwo auf der nicht enden wollenden Überlandfahrt hatte sie aufgehört, sie zu zählen. Ihre Glieder fühlten sich bleischwer an. Calliope lehnte sich an eine der Säulen, die das Terrassendach trugen. Durch ihre Kleidung hindurch spürte sie die Kühle des Steins. Dann schloss sie die Augen und ließ denKopf gegen die Säule sinken. Wie lange sie so dagestanden hatte, wusste sie nicht. Vielleicht hatte sie sogar etwas dabei geschlafen.
Jedenfalls zuckte sie plötzlich zusammen, als sie merkte, dass jemand hinter ihr stand.
Es war eine Frau, die dicht an sie herangetreten war, ohne dass sie etwas gemerkt hatte. Ihre edlen Züge trugen eine heitere Gelassenheit zur Schau, ein schön geschnittenes Gesicht mit hohen, geschwungenen Wangenknochen. Ihre Haut war dunkel, und ihr Haar umstand in einer dichten, kurz geschnittenen Naturkrause den Kopf.
„Zalika“, begrüßte Calliope sie erleichtert darüber, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Viel zu lange war es schon her, dass sie ihre Mentorin zuletzt getroffen hatte.
„Du siehst müde aus“, sagte Zalika, trat hinzu und lehnte sich neben sie an die Brüstung. Sie war schlank und feingliedrig. Ihre straffe Haltung hatte etwas Militärisches an sich.
Calliope liebte und achtete diese Frau, und es tat ihr leid, dass, wie es schien, ausgerechnet ihr die unangenehme Aufgabe zuteilgeworden war, ihrer ehemaligen Schülerin das Schicksal zu verkünden, das sie erwartete.
„Warum hast du unterwegs keine Pause eingelegt, um dich auszuruhen?“
„Hätte ich vielleicht machen sollen.“ Calliope lächelte schwach. „Aber ich dachte, es sei wichtiger, Kuznetsov so schnell wie möglich hierherzubringen. Ich konnte den Reaper hinter mir lassen. Er hat sich in Schmerzen am Boden gewälzt, als ich ihn verlassen habe, umgeben von Xaphans Gespielinnen, die dabei waren, ihn bei lebendigem Leibe zu rösten. Jetzt bin ich hier in einer uneinnehmbaren Festung. Eigentlich könnte ich ganz beruhigt sein.“
„Das bist du aber nicht.“
„Der Reaper wird mich verfolgen.“ Calliope ließ sich die Anspannung nicht anmerken. Sie besann sich auf ihre Stärke, zu der es gehörte, die innere Ruhe zu bewahren. „Die Feuerdämonen können ihn in eine brennende Fackel verwandeln, abervernichten können sie ihn nicht. Er wird aufstehen, und seine Wunden werden heilen. Vielleicht sind sie schon geheilt. Und dann wird er sich auf die Suche nach mir machen.“
„Nach dir ?“
Der Nachdruck, mit dem Zalika fragte, ließ Calliope aufhorchen. Zu spät merkte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte sich selbst nicht so in den Mittelpunkt stellen dürfen. „Na ja, nach Kuznetsov in erster Linie“, korrigierte sie sich schnell. Aber es war zu spät. Zalika hatte längst etwas gemerkt.
Trotzdem ging sie fürs Erste darüber hinweg. „Und was will er von Kuznetsov?“, fragte sie nur.
Dieses Mal wählte Calliope ihre Worte sorgfältiger. Sie war sich nicht sicher, was Zalika wusste. Zwar war aller Welt, der oberen und der unteren, bekannt, dass es einen Mord an einem Seelensammler gegeben hatte, aber ob Zalika darüber informiert war, dass es sich um Sutekhs Sohn handelte, war schwer zu sagen. Die Isisgarde war selbst intern äußerst zurückhaltend, was den Austausch von Informationen anging. So hielt Calliope ihre Formulierung möglichst allgemein. „Der Reaper und seine Brüder suchen nach dem Seelensammler, der getötet wurde“, sagte sie. „Und nach dem, der ihn getötet hat.“
„Genau wie wir.“ Zalika versank für einen Moment in Schweigen. Dann sagte sie: „Aber du hast doch sicherlich deine
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