Fleischessünde (German Edition)
Gedächtnis genommen. Nicht so, dass er sich nicht erinnern könnte, dass er an einem Mord mitgewirkt hat. Er weiß genau, dass er an dieser Zeremonie beteiligt war, dass er jemanden seines Bluts und seines Lebens beraubt hat, der nicht dazu bestimmt war zu sterben. Aber sobald es um Einzelheiten geht, ist seine Erinnerung wie ausgelöscht. Kein einziges Detail.“
Calliope sah Zalika fassungslos an. „… seines Bluts und seines Lebens beraubt …“, wiederholte sie und gab sich gar nicht erst die Mühe, ihre Verwunderung zu verbergen. Dass Kuznetsov an der Ermordung von Lokan Krayl in der einen oder anderen Weise beteiligt war, hatte sie sich gedacht. Aber nach Zalikas Worten war er nicht nur dabei gewesen, sondern hatte den Mord begangen. Wie war das möglich?
Sie war als Isistochter geboren und hatte selbst übernatürliche Kräfte. Sie hatte das Blut Malthus Krayls gekostet und wusste demzufolge, was für eine Kraft durch die Adern der Söhne Sutekhs pulsierte. Selbst die vergleichsweise geringe Menge, die sie gekostet hatte, hatte ihre eigenen Kräfte vervielfacht. Allein die ausklingende Wirkung dessen hatte ausgereicht, um sie fast drei Tage und drei Nächte wach zu halten und danach noch diesen mörderischen Aufstieg zu schaffen. Und dennoch war er ihr haushoch überlegen. Die kleinen Siege, die sie in den kurzen Auseinandersetzungen mit ihm errungen hatte, waren das Ergebnis von List und Überrumpelung, aber ein ernsthaftes Kräftemessen waren diese Scharmützel nicht gewesen. Niemals wäre sie imstande gewesen, Malthus Krayl zu töten. Wie konnte dann Pyotr Kuznetsov, der ein gewöhnlicher Sterblicher war, den anderen Sohn Sutekhs getötet haben? Calliope stellte die Frage laut: „Wie ist es möglich, dass ein Sterblicher einen unsterblichen Reaper tötet?“
Ein feines Lächeln huschte über Zalikas hübsches Gesicht. „Auf diese Frage hätten wir in der Tat gern eine Antwort.“
„Er allein wäre dazu nicht in der Lage gewesen. Wir können nur hoffen, dass er sich erinnert und die Namen derjenigen nennt, die noch beteiligt waren.“
„Oder wir sollten hoffen, dass ihm das nicht gelingt.“
Zalikas Worte waren sanft gesprochen, aber ihre Botschaft war eindeutig. Sollte sich herausstellen, dass in jener Nacht die Isistöchter beziehungsweise Mitglieder der Isisgarde die Verbündeten Kuznetsovs gewesen waren, wäre es besser, den Mantel des Schweigens darüber zu decken, denn sonst drohte ihnen Gefahr.
Aber wer auch immer hinter dem Mord steckte, es musste eine starke Kraft aus der Unterwelt sein. Die Matriarchinnen hatten in jedem Fall allen Grund dazu, daran interessiert zu sein, dass der tote Seelensammler und Sutekhsohn tot blieb. Sollte es seinen Brüdern gelingen, Lokans Leichnam zu finden, und sollte es gelingen, ihn wieder zum Leben zu erwecken, würde er mit dem Finger auf seine Mörder zeigen. Sutekh würde nach blutiger Rache schreien, und die Folge wäre ein Krieg apokalyptischen Ausmaßes, in den die ganze Unterwelt und auch die Welt der Sterblichen hineingezogen würden. Falls die Matriarchinnen selbst hinter der Tat steckten, hatten sie natürlich ein umso größeres Interesse daran, dass Lokan unauffindbar blieb und alle Zeugen zum Schweigen gebracht wurden. Dann wäre auch Kuznetsovs Schicksal besiegelt.
Eine Frage beschäftigte Calliope schon die ganze Zeit. „Zalika, wer darf die Kartusche der Isis tragen?“
„Die Göttin selbst. Und die Matriarchinnen. Niemand sonst.“ Etwas befremdet fügte sie hinzu: „Aber das weißt du doch.“
Calliope empfand das starke Bedürfnis, alles zu erzählen, um sich der klugen Führung ihrer Mentorin anzuvertrauen. Aber etwas hielt sie zurück, und so sagte sie nur ausweichend: „Ja, natürlich. Wie dumm von mir. Ich bin wirklich etwas müde.“
Zalika legte ihr freundschaftlich die Hand auf den Arm. In diesem Augenblick schwang die Flügeltür zur Terrasse auf undwurde von zwei Mitgliedern der Garde aufgehalten. „Komm“, sagte Zalika, „die Matriarchinnen sind jetzt bereit, dich zu sehen.“
Und bin ich auch bereit? fragte sich Calliope im Stillen.
„Was soll das heißen: Sie hatte uns nichts zu sagen ? Das darf doch nicht wahr sein.“ Malthus ging unruhig in Sutekhs Audienzsaal auf und ab und nahm sich von einem Tisch, der voller Süßigkeiten stand, ein Stück Baklava. Sein Vater hielt immer einen Vorrat an Süßigkeiten bereit, die er aus der Oberwelt kommen ließ. Das war unumgänglich. Denn würden seine Söhne von der
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