Fleischessünde (German Edition)
Vater getötet hatten. Die Figur trat ins Hellere, ein paar graue Augen blickten sie an.
Malthus Krayl.
Irgendetwas sagte ihr, dass er es gewesen war, der das Gefühlin ihr ausgelöst hatte, beobachtet zu werden, dass es auch seine Arme gewesen waren, die sie umfangen hatten, dass er es gewesen war, der ihr schon vorher durch die Straßen gefolgt war. Sein Auftauchen stürzte Calliope in eine heillose Verwirrung. Beinahe hätte sie seine Umarmung als Trost hingenommen. Doch waren es Seinesgleichen, die ihren Vater umgebracht hatten. Er war genauso ein Monster wie sie. Wut kochte in ihr hoch. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sich auf ihn gestürzt und ihn mit bloßen Händen zerrissen.
Der Mann, der aussah wie Malthus Krayl, packte den Mörder ihres Vaters am Arm, nahm ihm die Reste des Herzens aus der Hand und warf sie beiseite. Dann rammte er seine halb geöffnete Faust durch die Rippen des anderen hindurch ihm in den Brustkorb.
Keuchend fuhr Calliope in die Höhe und riss sich von ihrem Albtraum los.
Der Traum war sonst immer gleich gewesen. Nur dieses Mal war etwas durcheinandergeraten. Sonst hatte sie immer weinend im Gebüsch gehockt, bis der Fremde mit den grauen Augen gekommen war, um sie da herauszuholen. Jetzt hatte dieser Fremde plötzlich eine Identität, einen Namen.
Es traf sie wie ein Hammerschlag, als sie begriff, was das zu bedeuten hatte.
Malthus Krayl hatte sie gefunden.
Malthus stand auf der Straße. Straße war eigentlich zu viel gesagt. Es war ein schmaler, mit Schotter bedeckter Streifen mitten in der Wildnis, der hier abrupt endete und vom Wald verschluckt wurde.
Malthus schaute zum Gipfel des gewaltigen Bergmassivs hinauf, das sich über ihm erhob. Dort oben irgendwo musste sie sein. Er brauchte nur hinaufzugehen und nachzuschauen.
Sein Atem ging schneller als gewöhnlich, als hätte er einen Langstreckenlauf hinter sich. In gewisser Weise stimmte dassogar. Er hatte mit Calliope Schritt halten müssen, als sie durch die Straßen gerannt war. Er hatte gesehen, was sie gesehen hatte, gefühlt, was sie gefühlt hatte. Schrecken, Hilflosigkeit, am Ende Entsetzen und Verzweiflung. Er hatte diejenigen töten und ihnen die Herzen herausreißen wollen, die ihr das angetan hatten. Er wollte Calliope in die Arme nehmen, sie beschützen.
Normalerweise hasste er Gefühlsaufwallungen. Das waren Dinge, von denen er sich längst verabschiedet und die er vor langer Zeit bei sich begraben hatte. Was sollte das werden? Sollte er sich auf die Brust trommeln und brüllen: „Sie gehört mir!“ Das war nichts für ihn. Und doch: Gerade diese Frau, die seinen Schutz nicht brauchte – oder nicht wollte – weckte in ihm solch primitive Reaktionen.
Wieso? Er konnte diese Frage nicht beantworten. Er hatte es bei seinen Brüdern gesehen. Dagan und Alastor – alle beide waren sie gegen die Wand gefahren. Liebe auf den ersten Blick. Malthus glaubte nicht an diesen Spuk. Einen One-Night-Stand – dafür war er immer zu haben. Aber das andere? Scheiß drauf.
Und trotzdem bewunderte er sie, diese Frau, zu der das kleine Mädchen geworden war. Ein kleines Mädchen, das schlau und stark genug gewesen war, sich verborgen zu halten, ruhig zu bleiben, das zu befolgen, was die Mutter ihr wieder und wieder gepredigt hatte. Dieses Kind hatte die Kraft, sich selbst zu retten.
Dabei war Calliope einem folgenschweren Irrtum erlegen, der seitdem ihr ganzes Leben bestimmt hatte. Ohne es zu ahnen, hatte sie ihr ganzes restliches Leben auf einer Lüge aufgebaut. Aber wie sollte er ihr das jemals erklären? Wie sollte er ihr klarmachen, dass sie nicht diejenige war, die sie zu sein glaubte?
Malthus richtete seine Sinne noch einmal auf die letzten Momente von Calliopes Traum. Seines Traums. Es war ein und derselbe. Er sah, was er sehen wollte: einen Raum, darin ein Bett, ein kleiner Tisch, ein Stuhl, der mit der Rückenlehne unter dieTürklinke geklemmt war. Es war nicht viel, was er sah, aber es genügte ihm.
Calliope schwang die Beine aus dem Bett. Mit Herzklopfen war sie aus ihrem Traum erwacht, und ihr stoßweiser Atem war das Einzige, das in dieser vollkommenen Stille zu hören war. Für einen Moment glaubte sie, dass er immer noch da war und sie beobachtete. Aber da war gar nichts, nur undurchdringliche, tintenschwarze Finsternis, die sie umgab.
Wieder dieser Traum. Seit Langem war er nicht mehr so lebendig, so real gewesen. Und dann war Malthus Krayl darin aufgetaucht, was nun alles durcheinanderbrachte.
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