Fleischessünde (German Edition)
Die Mörder ihres Vaters waren Reaper wie er. Andererseits hatte der Mann, der sie Stunden später vor dem wütenden Mob gerettet hatte, genau die gleichen grauen Augen mit den dichten, dunklen Wimpern. An nichts von diesem Mann erinnerte sie sich so genau wie an die Augen.
Erst nachdem sie das Licht am Bett angeknipst hatte, fiel ihr auf, dass sie in der Dunkelheit zuvor nichts hatte erkennen können. Solange das Reaperblut gewirkt hatte, hatte sie sich selbst in kompletter Dunkelheit orientieren können. Wenn das jetzt ein Zeichen dafür war, dass die Wirkung nachließ, kam vielleicht auch ihr sechster Sinn wieder zurück, ihre Fähigkeit, Ereignisse vorauszuahnen, die sie so sehr vermisst hatte.
Calliope blickte um sich. Alles schien an seinem Platz zu sein. Der Stuhl klemmte noch unter der Klinke. Das Tablett mit dem nur zur Hälfte verzehrten Essen stand auf dem Tisch. Sie war allein, allein mit den Geistern ihrer Vergangenheit. Und doch witterte sie eine Bedrohung. Es war Gefahr im Anzug.
In dem Raum war es so kalt, dass man den Atem sehen konnte. Calliope stand seufzend auf und holte sich von dem Wäschestapel, den man ihr zusammen mit dem Essen gebracht hatte, ein Paar Socken. Sie zog sie an und ging ins Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen. Sie hatte einen furchtbaren Geschmack imMund. Es schmeckte bitter nach Galle und Tränen. Wie lange hatte sie schon keine Tränen mehr vergossen?
Ihr Traum ließ sie nicht los. Dabei wollte sie nicht mehr daran denken. Oder darüber grübeln, wie Malthus Krayl sich in die Bilder ihrer Erinnerung hatte einschleichen können. Es waren nur drei Reaper gewesen, die den allgemeinen Tumult des Pogroms ausgenutzt hatten, um ihren Vater zu töten. Von einer Gruppe betrunkener Seeleute war das Chaos ausgelöst worden und in einer Welle von Gewalt über Odessa hinweggefegt. Malthus Krayl hatte nicht zu den dreien gehört, die ihren Vater umgebracht hatten. Und trotzdem war er in diesem Traum irgendwie beteiligt.
„Ich bin heiter und gelassen. Ich bin ein tiefer, kühler Brunnen“, sagte sie halblaut zu ihrem Konterfei im Badezimmerspiegel. Aber ihr Mantra konnte ihr nicht dabei helfen, ruhiger zu werden, und so fügte sie mit einem bitteren Lachen hinzu: „Ich bin ein blöder, langweiliger See.“
Als Kind war sie von den Launen des Schicksals herumgestoßen worden. Sie hatte gar keine andere Wahl gehabt, als sich in die Schatten zu drücken und sich hindurchzulavieren, so gut es gegangen war.
Lange war das jetzt her. Inzwischen hatte sie gelernt, das Schreckliche ihrer Kindheit zu begraben, es gewissermaßen auf dem Grund jenes Sees zu versenken, der ihr Ruhepol in ihrer Mitte geworden war, der Zufluchtsort, der ihr Ausgeglichenheit und Kraft verlieh. Aber wo war dieser friedliche See geblieben? Nichts von ihm war zu entdecken. Stattdessen toste um sie herum ein Meer von aufgewühlten Gefühlen.
Calliope spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht. Dann verließ sie das Badezimmer. Sie hatte kaum die Schwelle überschritten, als sie erstarrte.
Kälte schlug ihr entgegen. Die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Es gab keine Vorwarnung. Dennoch riss sie geistesgegenwärtig den Arm hoch und fuhr auf dem Absatz herum,um den Schlag abzuwehren, der von hinten kam. Sie hatte gerade noch genug Zeit, um den Blick auf ein Gesicht zu erhaschen. Blaue Augen, blondes Haar, das zurückgekämmt zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war.
Dann sah sie eine Klinge aufblitzen, die sich gegen ihre Kehle richtete.
16. KAPITEL
Wenn ein Dämon kommt, dir einen Schlag zu versetzen,
Ich werde es nicht zulassen.
Deine Feinde, ich werde sie schlagen.
Siehe, schützend stehe ich vor dir.
Aus dem Ägyptischen Totenbuch, Kapitel 151
D er Schlag mit dem Handballen, der auf die Nase zielte, kam blitzartig. Nur um ein Haar konnte Calliope ihm und gleichzeitig dem Angriff mit dem Messer ausweichen. Offenbar hatte sie es mit einem ebenbürtigen Gegner zu tun.
Sie blockte den nächsten Schlag mit dem Unterarm ab, tauchte ab, blockte wieder. Ihr Puls raste. In ihren Ohren hörte sie das Blut rauschen.
Ihre Gegnerin duckte sich, setzte zum Sprung an. Mit zwei schnellen Schritten ging Calliope auf Distanz. Wie hatte die andere hier eindringen und die perfekten Sicherheitsschleusen der Garde überwinden können? Calliope landete einen Schlag in der Nierengegend ihrer Gegnerin und musste zugleich selbst einen gegen ihr Knie hinnehmen. Mit knapper Not gelang es ihr gerade noch,
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