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Fleischessünde (German Edition)

Fleischessünde (German Edition)

Titel: Fleischessünde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eve Silver
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können.
    Und damit war sie wieder einmal bei ihm angelangt, an den sie nun als Letztes denken wollte. Nicht an sein wölfisches Lächeln, nicht an seinen flüchtigen Kuss auf dem Parkplatz, kurz bevor die Feuergeister aufgetaucht waren. All das hätte sie am liebsten aus ihrem Gedächtnis gestrichen. Und erst recht diesen Traum, in dem er ihr vor ihrem Aufstieg erschienen war und in dem sie ihm die Zunge bis in den Hals gesteckt hatte.
    Sie wischte diese Gedanken fort. Sie musste jetzt schlafen.
    Ohne die Hose und das Sweatshirt auszuziehen, kroch sie unter die Decke und rollte sich auf dem Bett zusammen. Die Augen fielen ihr zu, und Sekunden später schon befand sie sich in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen. Noch halb bewusst merkte sie, wie die Bilder zu ihr drangen – zu grell, zu laut. Nein, dorthin wollte sie nicht wieder zurück. Mit aller Kraft wehrte sie sich dagegen, aber sie wurde unwiderstehlich hineingezogen, versank darin wie in einem Sumpf. Es war ihr Albtraum.
    Sie waren von ihren Schiffen gekommen und strichen nun in Gruppen durchs Viertel. Matrosen, raue, ungezügelte Burschen. Sie war in Eile. Sie hatte etwas zu erledigen und musste zurück zu ihrem Vater in den Laden. Aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was für ein Auftrag das war, mit dem sie losgeschickt worden war, und ihr wurde schlagartig klar, dass dieser Auftrag jetzt nicht mehr wichtig war. Sie raffte ihre Röcke undlief durch die Straßen und Gassen, so schnell sie konnte. Links und rechts ragten die Häuser auf. Sie schienen zusammenzurücken und sich mit ihren Dächern zu ihr zu neigen, sodass es ihr vorkam, als liefe sie durch einen endlosen, engen Tunnel. Eine Menschenansammlung versperrte ihr den Weg. Zu ihrer Linken hielten zwei wie Bäuerinnen gekleidete Frauen einen Mann fest, während zwei weitere ihn mit einem Besenstiel und einer Mistgabel traktierten. Auf der anderen Seite hatte ein Mann in einem eigenartigen Aufzug einen anderen an der Gurgel gepackt und holte gerade mit einem Knüppel zum Schlag aus.
    Klein und wendig, wie sie war, schlüpfte sie zwischen ihnen hindurch. Ihr Herz schlug wie wahnsinnig, und ihr Atem ging keuchend.
    Sie hörte das Poltern von schweren Stiefeln auf dem Pflaster. Viele Stiefel. Als sie sich umdrehte, sah sie, wie sie ihr folgten. Griechische Matrosen, die vom Hafenviertel gekommen waren. Sie schubsten die Umstehenden, schlugen wahllos auf sie ein und grölten mit rohen, hasserfüllten Stimmen.
    Calliope lief, so schnell sie konnte, tauchte in dem rastlosen Geschiebe der Erwachsenen unter, das die Straße erfüllte, huschte zwischen den Leibern hindurch und versuchte, sich immer dicht an den Hauseingängen zu halten. Stehen bleiben durfte sie nicht, obgleich ihr Herz zum Zerspringen schlug, dann hätte sie ihr Zuhause nie wiedergesehen.
    Fast hatte sie ihr Ziel erreicht. Am Ende der Straße konnte sie den Laden schon erkennen. Dann hörte sie aus den lauten Stimmen um sich herum plötzlich jemanden ihren Namen rufen. Es klang wie ein spitzer Schrei, der sie warnen sollte, näher zu kommen.
    Vielleicht hatte sie sich den Aufschrei auch nur eingebildet, als sie das schreckensstarre Gesicht ihrer Mutter entdeckt hatte. Sie sah, wie der sonst sorgsam hochgesteckte Knoten im Nacken ihrer Mutter aufgelöst war und das dunkle Haar, das ihr bis zur Schulter reichte, zerzaust herabhing. Zwei Männer erschienenan der Ladentür und zerrten sie zurück.
    Calliope wich zur Seite aus und drückte sich an eine Mauer. Ängstlich schaute sie sich um. Jemand war da, jemand, der sie beobachtete. Panischer Schrecken schnürte ihr die Kehle zu, aber sie zwang sich, die Furcht in Schach zu halten, und behielt weiter den Laden ihres Vaters im Auge.
    Es gab immer wieder welche, die randalierend und marodierend durch die Straßen Odessas zogen. Aber diese Männer im Laden ihres Vaters waren andere. Calliope zitterte am ganzen Leib. Sie wusste, wer diese Männer waren. Ihre Großmutter hatte ihr schon oft von ihnen erzählt. Böse Geister, Dämonen mit menschlichem Antlitz, die menschliches Fleisch fraßen. Es waren Schauermärchen, aber Calliope hatte sich immer schon in ihrem Herzen vor ihnen gefürchtet, weil sie ahnte, dass sie keine reinen Erfindungen waren.
    Und jetzt hatte sie Gewissheit. Jetzt waren diese bösen Geister gekommen, um ihre Familie zu holen. Und sie waren nicht von dieser Welt.
    Ihre Mutter hatte ihr manchmal von den Pogromen der Vergangenheit berichtet. Sie hatte gesagt, dass man

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