Flesh Gothic (German Edition)
»Allmählich bekomme ich das Gefühl, manipuliert zu werden. Geht es noch jemandem von euch so?«
»Oh, mir schon«, pflichtete Cathleen ihm bei.
»Manipuliert oder verflucht paranoid«, sagte Westmore, der wieder einmal fasziniert die Verwehungen des Zigarettenrauchs beobachtete. Paranoid stellte eigentlich nicht mehr die richtige Beschreibung für Westmore dar. Angesichts all dieser Entwicklungen und dem, was er von Clements in der Kneipe erfahren hatte, wusste er nicht recht, worauf er das meiste Vertrauen setzen sollte.
»Die Zeit wird es letztlich weisen«, orakelte Nyvysk in bester Priestermanier.
»Ich frage mich nur, wie lange wir noch warten müssen«, sagte Cathleen.
»Ich auch.« Erschöpft seufzte Nyvysk. »Es ist mir zwar sehr peinlich, das zu sagen, aber ich habe fast Angst zu Bett zu gehen, so müde ich auch bin.«
Cathleen stieß ein trockenes Lachen aus. »Ich habe nicht nur fast Angst – ich habe Angst. Und das ist ungewöhnlich für mich.«
Damit kam Westmore an die Reihe. »Hey, ich bin bloß freiberuflicher Schriftsteller. Ich bin zu objektiv – oder zu dumm –, um Angst zu haben. Falls ich also mit abgeschnittenem Kopf aufwache, dann verdiene ich es wohl nicht besser.«
Er hatte es als unbeschwerten Witz gemeint, um die Stimmung aufzulockern. Aber sowohl Nyvysk als auch Cathleen schleuderten ihm stumme, tadelnde Blicke entgegen.
Scheiße. »Tut mir leid.«
»Gute Nacht«, sagte Nyvysk. »Ich sehe euch beide morgen früh. Mit euren Köpfen.«
Sie verabschiedeten sich voneinander und zogen sich zurück.
In seiner Schlafzelle zog sich Westmore bis auf die Unterhose aus und kroch unter die Decke. Im Atrium brannte noch eine kleine Lampe; er konnte sie durch die Lücke zwischen den Vorhängen sehen. Normalerweise hätte ihn so etwas gestört. Aber nicht heute Nacht . Wer hatte sie brennen lassen? Tatsächlich wünschte sich Westmore instinktiv eine ganze Batterie von Scheinwerfern herbei. Dann kicherte er in sich hinein. Sieh sich uns einer an. Ein Haufen Erwachsener, die sich wie Kinder vor der Dunkelheit fürchten .
Jedes Mal, wenn ihn der Schlaf fast übermannte, ließ ihn schlagartig das Gefühl aufschrecken, in einen tiefen Abgrund zu blicken. Bilder von Hildreth, vom Fleischtempel, von dem Kupferstich mit Belarius. Bilder von all den hübschen Gesichtern, die er auf den DVD-Covers gesehen hatte; der jähe Kontrast zu den abgeschlachteten Überresten, die er von den Autopsiefotos kannte.
Bilder von Debbie Rodenbaugh.
Scheiße ...
War dieses Haus wirklich »geladen«? Die denken, es sei durch Hildreths Geist lebendig – einen bösen Geist, der finstere Pläne für die Zukunft hegt. Glaube ich wirklich daran?
Er stöhnte. Vielleicht will diese verwunschene Drecksbude dafür sorgen, dass ich heute Nacht überhaupt keinen Schlaf bekomme.
Westmore stand auf und sparte sich die Mühe, eine Hose anzuziehen. Alle anderen schliefen – die Männer konnte er sogar schnarchen hören –, wer also sollte ihn sehen, wenn er nur in seiner Unterhose nach draußen tappte?
Außerdem ist’s mir egal.
Wenig später pirschte er rauchend und rastlos durch das Atrium.
Er hörte die Uhr ticken. Dann schlug sie dreimal. Westmore drehte sich um und hätte beinahe aufgeschrien, als eine Gestalt mit raschen Schritten an ihm vorbeilief.
Adrianne, die einen Morgenrock trug, sah ihn mit großen Augen an. »Sie haben mich zu Tode ...«
»... erschreckt«, beendete Westmore den Satz, die Hand über dem Herzen.
Sie hob eine Kaffeetasse in die Höhe. »Ich konnte nicht schlafen, deshalb habe ich mir Milch warm gemacht.«
»Sollte ich vielleicht auch versuchen. Ich kann überhaupt nicht schlafen.« Dann erfasste ihn mit Verzögerung ein Anflug von Verlegenheit. Oh Scheiße, ich stehe hier in meiner verfluchten Fruit-of-the-Loom-Unterhose! Er lief knallrot an und sagte: »Tut mir leid, ich dachte, sonst wäre niemand mehr wach.«
»Entspannen Sie sich. Dass ich seit zehn Jahren keinen Sex mehr hatte, bedeutet noch lange nicht, dass ich einen Mann im Slip anstößig finde. Gute Nacht.«
»Gute Nacht.«
Damit trippelte sie davon und verschwand hinter ihrer Trennwand. Super Auftritt, Westmore. Was bist du doch für ein Volltrottel .
Er hätte nicht sagen können, wer am lautesten schnarchte – Nyvysk, Mack oder Willis. Oh Mann, Leute, ihr hört euch an wie ein Haufen Kettensägen .
Dann redete jemand im Schlaf. »Nein ... Oh Gott, nein ...«
Stille. Jemand musste wohl einen Albtraum haben. Dann
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