Flesh Gothic (German Edition)
während ein Dutzend Granitstatuen, jeweils knapp über einen Meter hoch, das Zentrum beherrschte. Eine davon, eine nachdenklich wirkende Gestalt mit langem Mantel, konnte Nyvysk – gelernter Historiker – nicht einordnen. »Wer ist diese Skulptur? Klinnrath?«
»Oh, keine Ahnung«, antwortete Mack. »Damit kenne ich mich nicht aus.«
»Das ist Edward Kelly«, klärte ihn eine Stimme von oben auf. Sie kam von einer kurzen Galerie mit Geländer. »Dr. John Dees Lehrling in Alchemie und Hexenkunde.«
»Willis«, begrüßte Nyvysk den Mann mit einem kurzen Blick. Er kannte den Taktionisten von einem früheren Auftrag und einigen Dokumentationen im Fernsehen. Der Mann war so echt, wie ein Taktionist nur sein konnte – fast schon zu echt. Nyvysk überraschte, dass Willis nicht längst Selbstmord begangen hatte. »Wie geht es dir?«
»Ging mir beschissen, bis ich diese Einladung bekam.«
»Sollte eine interessante Angelegenheit werden, zumindest können wir darauf hoffen.«
Willis’ Erscheinungsbild hatte sich seit ihrer letzten Begegnung zum Negativen verändert, wie Nyvysk heimlich konstatierte. Willis sah zwar attraktiv, aber abgehärmt und älter aus, als er war – ein Mann, der zu viel von innen gesehen hatte. Doch trotz des physischen Verfalls, den ihm sein Talent abverlangte, lächelte er herzlich. Er deutete auf die Statue. »Falls es dich interessiert, in Hildreths Bibliothek gibt es einige Dee-Übersetzungen – Originale – und einige Briefe von Kelly.«
»Das ist jetzt ein Scherz.«
»Nein. In diesem Haus ist so gut wie alles echt.« Dann warf Willis einen Blick zu Mack. »Richtig, Mack?«
Der junge Sicherheitsbeauftragte runzelte die Stirn, was Nyvysk interessant fand. Die beiden konnten einander unmöglich kennen.
»Ja, richtig«, gab Mack schroff zurück.
»Wir sind hier drüben.« Willis richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Nyvysk. »Komm doch rein.«
Damit verschwand Willis durch eine Walnusstür mit edlen Intarsien.
»Ich weiß ja nicht, wo Sie Ihre Ausrüstung aufbauen wollen, aber geben Sie mir einfach Bescheid, dann schaffe ich sie rein«, bot Mack an.
»Danke. Ich bin zu alt, um noch viel zu schleppen.« Kurz verstummte Nyvysk. »Sie scheinen Willis zu kennen.«
»Nein, ich kenne ihn nicht«, entgegnete Mack und ging weiter. »Folgen Sie mir.«
Bevor Nyvysk weitere Mutmaßungen anstellen konnte, wurde seine Neugier von weiteren Eigenheiten der geradezu düsteren Pracht der Villa gefesselt. Große Bogendurchgänge mit geschnitzten Holzrahmen blickten von jedem Winkel herab. Die meisten Türleisten darüber wiesen ein kleines Messingschild auf: DER CAGLIOSTRO-SALON, DAS BONNEVAULT-ZIMMER, DER BRUHESSEN-SAAL. So gut wie jeder Raum war nach einem Zauberer, Astrologen oder metaphysischen Wissenschaftler benannt. Aufwendig furniertes Holz täfelte die meisten Räume. Eine Vielzahl dunkler, importierter Teppiche variierte den Farbton jedes Bereichs, den sie passierten: ein riesiger Speisesaal, mehrere Wohnzimmer, ein Rauchersalon und schließlich ein helles Wohnzimmer, dessen Außenwand von bleigefassten Fenstern durchsetzt war, was bizarr wirkte.
Einige Scheiben wiesen winzige Intarsien aus zinnober- oder amarantrotem Kristall auf. Anrichten, Schränke und Tische mit herunterklappbaren Seitenteilen und Kugelbeinen säumten weitere Wände, an denen dunkle Ölgemälde ernster, eindringlicher Gesichter hingen. Jahrhundertealte Porträts berühmter und berüchtigter Persönlichkeiten auf dem Gebiet des Übernatürlichen und des Okkultismus, soweit Nyvysk es erkennen konnte. Matte Mineralien schienen ihn aus unterhalb der Decke montierten Halterungen und Fassungen wie Augen anzustarren, darunter seltene wie Amethyst, weißer Lapis und der Kristall von Anpiel, dem Engel der spirituellen Erweiterung. Auch Spiegel mit Zierrahmen gab es in Hülle und Fülle, einige davon nahmen breite Bereiche der Wände ein. Durch weitere, kleinere Ochsenaugen- und Lünettenfenster fielen schmale Sonnenlichtstreifen auf die Laufwege, was eine interessante Wirkung erzeugte. Aber selbst in den taghellsten Räumen verblieben Reste einer Düsternis, die nicht vorhanden sein sollte, als weigerten sie sich, die Nacht loszulassen, an die sich dieses Haus so gewöhnt haben musste.
Als Nächstes folgte ein langer, fensterloser Flur – DER BUGUET-GANG, benannt nach dem französischen Geisterfotografen. Allmählich wurde Nyvysk von all dem überfrachteten Dekor unwohl, als hätte er zu viel von einer erlesenen,
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