Flieg, Hitler, flieg!: Roman
Ignatius L. Donnelly als der wahre Ort von Atlantis und als Geburtsstätte der arischen Rasse angesehen wurde. Sebottendorf hielt Versammlungen in einem Hotel in München ab und kaufte sogar eine Lokalzeitung. 1919 wurden zwei Mitglieder der Thule-Gesellschaft, Anton Drexler und Karl Harrer, dazu aufgefordert, eine politische Fassade für die Organisation zu errichten, die sie Deutsche Arbeiterpartei nannten. Bald trat Adolf Hitler ihr bei, und der Name wurde 1920 in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei geändert.
Von da an ist nicht viel über die Thule-Gesellschaft bekannt. Sebottendorf floh vor den Agenten der Münchner Räterepublik in die Türkei, und es wird allgemein angenommen, dass die Thule-Gesellschaft vertrocknete wie der Kokon einer Motte. Aber in der Internetgemeinde der Sammler von Nazi-Memorabilien trifft man eine überraschende Anzahl von Leuten, die glauben, dass die Nazipartei niemals etwas anderes war als eine Fassade für ariosophische Okkultisten. (Während wieder andere glauben, dass Hitler entweder ein britischer Geheimagent oder der Anführer einer Art homosexualistischer Mafia war.)
Stuart behauptete ein paar Monate lang sogar, dass die Thule-Gesellschaft für die Angriffe vom 11. September verantwortlich sei, bis er das Interesse an dieser Theorie verlor. Vielleicht haben Sie schon gehört, dass das Militär der Vereinigten Staaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eine Aktion unter dem Codenamen Operation Paperclip durchführte und Dutzende von Nazi-Wissenschaftlern nach Amerika verschiffte, die dort in der Atomphysik arbeiteten und Raketen entwickelten. In Wirklichkeit, behauptet Stuart, waren sie Experten für Anti-Schwerkraft, außerirdisches Leben und Totenbeschwörung, und viele von ihnen stammten aus der Hierarchie der Thule-Gesellschaft. Auf irgendeine Weise hätten diese Wissenschaftler eine Allianz mit ihren Vettern von Skull & Bones in Yale geschmiedet, einer Studentenverbindung, der viele der mächtigsten Männer des zwanzigsten Jahrhunderts angehörten, darunter Robert A. Lovett, der die CIA aufbaute, und die beiden Präsidenten Bush. Diese »Bruderschaft des Todes« habe das Dritte Reich lediglich als Probelauf für das Vierte Reich angesehen, für Amerikas Neue Weltordnung, und zu ihren schmutzigen Machenschaften in neuester Zeit habe die Zerstörung der Türme des World Trade Center mithilfe von ferngezündetem Plastiksprengstoff und zwei holographischen Flugzeugen gehört. Ihr Endziel sei es, die unter dem Schnee Tibets verborgene heilige Stadt Agartha zu erobern und deren übernatürliche Kräfte zur Erlangung der ewigen Weltherrschaft zu nutzen.
Obwohl mir völlig klar ist, dass uns eine Menge Lügen über den 11. September erzählt wurden, finde ich Stuarts Darstellung aus Gründen, die ich hier nicht weiter erörtern möchte, doch etwas abwegig. Aber natürlich ist es amüsant, dass eine Organisation wie die Thule-Gesellschaft, die größtenteils aus paranoiden Langweilern bestand, die über nichts anderes redeten als die Götter von Atlantis und die Protokolle der Weisen von Zion – noch schlimmer als meine »Internetfreunde« –, als Gespenst zurückkehrt, um in jeder modernen Verschwörungstheorie herumzuspuken. Alle Paranoiker beginnen früher oder später, ihre vermeintlichen Verfolger zu imitieren, und die Thule-Gesellschaft tat das fast zu überzeugend. Wie dem auch sei, die Idee, dass die Ariosophen im einundzwanzigsten Jahrhundert einen Londoner Privatdetektiv ermordet hatten, war jedenfalls lachhaft. Lachhaft und erschreckend. Als ich die Vauxhall Bridge überquerte, das Gebäude des britischen Inlandsgeheimdienstes MI 6 zu meiner Linken, dachte ich, dass eine Stadt das ist, was sich an den Stellen anlagert, an denen sich eine Million Geheimnisse kreuzen: Ein Fuchs in deinem Garten ist ein gestohlener Kuss ist ein Piratensender ist ein toter Detektiv ist ein walisischer Ariosoph mit einer Knarre ist eine Unze Skunk zusammen mit deinen fettigen Pommes ist die Sammlung von Nazi-Erinnerungsstücken, die mein Arbeitgeber Horace Grublock in seiner Penthouse-Wohnung hat.
FÜNFTES KAPITEL
August 1935
Judah Kölmel, Halbbruder des Gangsters Albert Kölmel, beugte sich zu Sinner hinab, um an seiner Schulter zu lecken. Sie war salzig wie ein Hering, also sagte Kölmel: »Das war’s für heute.« Jeder gute Trainer konnte den Schweiß eines Boxers kosten und wusste, ob er lange genug trainiert hatte, aber achtzehn Jahre nachdem er die Worte
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