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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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»Kolmel’s Gym« über die Tür eines verlassenen Lagerhauses für Textilien in der Eighth Avenue gemalt hatte, konnte Judah Kölmel noch eine Menge mehr. Er schmeckte, ob der andere koscher aß; er schmeckte Alkohol, Nikotin und Marihuana; er schmeckte Grippe vor dem ersten Schniefen. Er schmeckte, ob seine nackte Frau es ihm nur vorgespielt hatte. Manchmal glaubte er, dass er Pech schmecken könne, dass er Unreinheit vor Gott schmecken könne und dass er den Schatten des Todes schmecken könne. Drei von vier Malen konnte er feststellen, ob ein Boxer seinen nächsten Kampf gewinnen oder verlieren würde. Wenn er jedoch Sinner prüfte, merkte er zwar, dass Sinner acht Stunden lang gehüpft und gelaufen war, dass er sein Sparring absolviert und genug getan hatte, aber darüber hinaus schmeckte er nichts – Sinners Schweiß war so nichtssagend wie Dampf auf einem Spiegel.
    Also machte Kölmel, der darüber selbst nach einer Woche Bekanntschaft noch etwas beunruhigt war, keinen schlauen Spruch, als er Sinner ein Handtuch reichte, und überließ es seinem Vetter Max Frink zu sagen: »Du hast heute hart gearbeitet.« Die drei stiegen die Metallstufen zu Sinners Garderobe im ersten Stock hinauf, obwohl mehrere Besucher von Kolmel’s Gym (das aus geschäftlichen Gründen seinen Umlaut verloren hatte) immer noch an den Punchingbällen trainierten.
    »Kann ich heute Abend zum Times Square gehen?«, fragte Sinner. Sein Ton war sarkastisch, denn er hatte diese Frage jeden Abend gestellt, seit er in New York angekommen war, und wusste, dass die Antwort Nein war. Frink behauptete, der Times Square sei ohnehin nicht halb so gut wie der Piccadilly Circus.
    »Nicht nötig, Seth«, gab Kölmel zurück. »Heute Abend amüsieren wir uns. Großes Abendessen.«
    »Was?«, sagte Frink.
    »Ein Essen bei Rabbi Berg«, erklärte Kölmel. »Das hatte ich doch in meinem Brief versprochen.«
    »Geh schon rein«, forderte Frink Sinner auf.
    »Ich hab keine Zigaretten mehr«, meinte Sinner. Kölmel reichte dem Jungen drei Chesterfield und schloss die Tür hinter ihm, sodass die beiden älteren Männer allein auf dem Korridor zurückblieben.
    »Was zum Teufel soll das mit dem Abendessen?«, sagte Frink leise.
    »Rabbi Berg möchte den Jungen unbedingt kennenlernen. Ich weiß genau, dass ich dir das erzählt habe.«
    »Gibt es Wein?«
    »Ja, aber –«
    »Rabbi Berg kann Sinner ein andermal kennenlernen.«
    »Ich habe es ihm versprochen!«
    »Nein.«
    »Max, du weißt nicht, wie viel der Rabbi für uns alle tut. Oder wie viel er für Sinner tun könnte. Wenn es ums Boxen geht, ist er wie ein Kind – er liebt es! Und er hat Verwandte in London.«
    »Bist du bekloppt? Wir bezahlen dafür, dass nachts ein Typ vor der Schlafzimmertür des Jungen steht, und jetzt willst du eine nette Party mit Wein für ihn veranstalten?«, sagte Frink, bemüht, die Stimme nicht zu erheben. »Hör zu, Judah, ich weiß vielleicht nicht viel über diesen Rabbi Berg, aber ich sage dir, was du nicht weißt: Du weißt nicht, wie schnell Sinner die Pferde durchgehen können. Du hast es nie gesehen. Um Himmels willen, er muss morgen Abend kämpfen.« Kölmel hatte vor dem entscheidenden Fight mit Aloysius Fielding am kommenden Wochenende zum Aufwärmen ein paar Kämpfe mit Jungs aus der Nachbarschaft arrangiert. Wenn Sinner Fielding schlug – und das würde er –, dann könnte er sich damit in Amerika etablieren, und das bedeutete größere Kämpfe, größere Titel, größere Brieftaschen. Er würde vielleicht monatelang nicht nach England zurückkehren müssen. Ohne Judah Kölmel hätte die Reise niemals stattfinden können, und Frink war so dankbar, dass er normalerweise mit allem einverstanden gewesen wäre, aber dies hier war zu wichtig; und wenn Frink hin und wieder in der Lage war, Albert Kölmel Widerstand zu leisten – etwas, das sehr wenigen Männern oder Frauen je gelang –, dann war er sicher auch in der Lage, Albert Kölmels Halbbruder zu enttäuschen.
    »Wir müssen ihn doch nur im Auge behalten. Du sitzt links von ihm, ich sitze rechts, und wir gehen mit, wenn er pissen muss.« Kölmels Gebiss saß locker und klapperte, wenn er sprach. Einem Gerücht zufolge trug er stets eine kleine Automatik in der Hosentasche. Er war Mitglied des New York Pangaean Club.
    »Nein. Auf gar keinen Fall. Die Einladung ehrt uns, Sinner und mich, aber das geht auf gar keinen Fall.«
    Während Sinner sich wusch und die Kleidung wechselte, ging Kölmel daher in sein Büro,

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