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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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und niemand konnte ihn aufhalten. Ihm stockte der Atem. Nach einer Weile blickte sich der Junge nach Erskine um, und ein kleiner Teil von Erskine war enttäuscht, als er das selbstherrliche Gesicht dieses anonymen polnischen Jungen sah und nicht, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, das Gesicht von Seth Roach. Sein Tagtraum war unterbrochen, und er machte einen Schritt nach vorn und begann, seinen Gürtel zu öffnen. Einen Augenblick lang fragte er sich, was dieser Junge von fünfzehn oder sechzehn Jahren bereits getan oder gesehen hatte, dass er sich auf diese Weise anbot; dann machte er sich Gedanken darüber, ob er ihn hinterher bezahlen musste oder ob es sich um eine Art Geschenk handelte, eine Dreingabe zur Tabakdose. Aber am meisten beschäftigte ihn die Frage, ob er selbst eigentlich so genau wusste, was er tun sollte. Er streckte gerade die Hände aus, um den von Gänsehaut überzogenen Hintern des Jungen zu berühren, als er Gittins rufen hörte: »Erskine?«
    Er blickte voller Panik auf. Gittins würde sie vom Höhleneingang aus nicht sehen können, also war sein erster Gedanke, sich einfach ganz still zu verhalten, bis Gittins wegging; aber dann fiel ihm ein, dass da draußen seine gesamte Ausrüstung lag und dass es keinen Zweifel geben konnte, wo er war. Einen Augenblick lang durchdrang ihn das Gefühl der Enttäuschung und des Verlusts bis auf die Knochen – genau wie an jenem Tag in Cambridge, als er einen sehr seltenen Enicocephaliden durch ein Labor getragen hatte, um ihn zu fixieren; ein Windstoß hatte das winzige Tier von dem Stückchen Kork geblasen, und sie hatten den ganzen Nachmittag damit verbracht, den Boden mit einem Vergrößerungsglas abzusuchen.
    »Erskine?«, rief Gittins noch einmal. »Ich habe mir schon gedacht, dass Sie hier oben sind. Ich weiß doch, wie sehr Sie sich auf die Höhlen gefreut haben. Können Sie mich hören, Erskine? Sie haben Ihren Proviant vergessen. Ich dachte, ich schaue mal nach Ihnen und gebe Ihnen etwas von meinem Essen ab.«
    Der Junge zog die Hose hoch.
    »Erskine, sind Sie da drin?«
    Erskine ließ sich auf Hände und Knie sinken und kroch tiefer in die Höhle. Er musste die Augen schließen, denn zwischen den Felsen spannten sich Spinnweben; sie sollten die Fliegen in die Falle locken, die sich von dem Fledermausdreck ernährten. Als er unter seiner rechten Hand etwas Seltsames spürte, öffnete er die Augen wieder, aber es war stockdunkel, sodass er seine batteriebetriebene Stablampe hervorzog und anschaltete.
    Er schrie auf.
    An der Wand der Höhle lehnte ein grinsendes menschliches Skelett und warf einen monströsen Schatten. Obgleich seine Kleider größtenteils vermodert waren, hing noch ein Gewehr über seinen Knien, ein Messer lag in seiner Hand, und eine verrostete Feldflasche hing an seiner Seite. Ein bolschewistischer Soldat. Erskine sah nach unten und entdeckte, dass er sich an der von Pilzen überwucherten Spitze seines zerbröckelnden linken Stiefels festhielt. In blinder Panik ließ er die Stablampe fallen, hob einen Stein auf und schleuderte ihn mit einem unterdrückten Grunzen auf das Skelett. Der Stein zerschmetterte die Rippen, und schwarzes Blut strömte aus dem Brustkorb, wo das Herz hätte sein sollen. Der Geist des Soldaten war zurückgekehrt, um Rache zu nehmen, dachte Erskine, oder vielleicht träumte er auch immer noch, dem Himmel sei Dank.
    Doch dann erkannte er, dass es keineswegs der Geist des Soldaten war. Es war eine kleine Kolonie von Käfern, die von dem Stein aufgeschreckt worden war und tiefer in die Höhle floh.
    Wie man mit Käfern umging, wusste er.
    Er fing einen davon in seiner behandschuhten Hand und betrachtete ihn unter dem Vergrößerungsglas. Diese Spezies war augenlos, geflügelt und stachlig. Er griff nach seinem Notizbuch, weil er eine Zeichnung der ungewöhnlichen Diamantmarkierung auf dem Rücken anfertigen wollte, als der Käfer seiner Hand entflog. Und dabei sah Erskine etwas, das er gar nicht gesehen haben konnte.
    Also versuchte er, seine kleine Halluzination zu ignorieren, und durchforschte sein Gedächtnis. Er kannte Käfer, aber diesen Käfer kannte er nicht. Und das konnte nur bedeuten, dass dieser Käfer neu war, eine ganz neue eigene Spezies und die erste, die sie trotz aller Versprechungen Percys auf dieser Reise gefunden hatten. Er würde das in seinen Nachschlagewerken überprüfen müssen, aber er war sich so gut wie sicher.
    Das hieß, er hatte nicht nur Gittins geschlagen, sondern er würde

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