Flieg, Hitler, flieg!: Roman
auch das Vorrecht haben, diesen kleinen Höhlenbewohner zu benennen, und dann musste die von Gittins so gehasste Internationale Kommission für Zoologische Nomenklatur den Namen ratifizieren, was sicherstellte, dass der Käfer diesen Namen für immer behielt oder wenigstens so lange, bis die Zivilisation von größeren Höhlenbewohnern überrannt und alle Wissenschaft vergessen sein würde.
Ein Kindheitstraum, der sich endlich erfüllt hatte.
Die Gattung würde Anophthalmus sein, was »augenlos« bedeutete. Aber Anophthalmus was? Er könnte ihn Anophthalmus hemmingi nennen, um Gittins zu ärgern, oder Anophthalmus jakubi als Tribut an den Aberglauben oder sogar Anophthalmus angeli im Gedenken an das missgebildete Kind, aber er bevorzugte Anophthalmus erskini – eine Chance, sich selbst im Alter von nur fünfundzwanzig Jahren unsterblich zu machen. Im frohen Gedanken daran hob er einen weiteren Käfer auf, aber bevor er einen genaueren Blick auf ihn werfen konnte, geschah dasselbe wie vorher. Ein drittes Mal: wieder dasselbe. Erst beim vierten Käfer wurde ihm klar, was er da sah. Als das Insekt seine dünnen, membranösen Flügel hob, um sich in die Luft zu begeben, wurde ihr Diamantmuster unterbrochen, und für einen kurzen Augenblick zeigten sie ein anderes Muster, eine asymmetrische Neuordnung derselben vier Winkel. Ein vollkommenes Tetraskelion im Uhrzeigersinn. Ein Hakenkreuz.
SIEBTES KAPITEL
Grublock lebte am Südufer der Themse in einem glänzenden Hochhausturm, den einer seiner dänischen Lieblingsarchitekten für ihn entworfen hatte. Eine Verbindung von Hermeneutik und Plastilin, glich er einem kurvenreichen Aktenschrank, der in aller Eile durchsucht worden war. Nachts konnte man aus den Fenstern von Grublocks dreistöckigem Penthouse über den tintenschwarzen Fluss zu den Kähnen sehen, die am gegenüberliegenden Ufer im Sand versanken, und darüber glitzerte Chelsea. Zur Rechten lag in der Ferne die Londoner City, die sich leuchtend erhob, als habe sich tröpfelndes Licht von den Sternen erst zu Stalagmiten aufgetürmt und dann zu einem Gebirgszug. Die Aussicht war so grandios, dass keiner von Grublocks Gästen sich je die Mühe machte, das kleine Aquarell zu betrachten, das an der Wand gegenüber hing, eine eher fade und unsichere Darstellung der Peterskirche in Wien mit der fast unleserlichen Signatur »A. Hitler« in der unteren linken Ecke.
Schon vor langer Zeit hatte ich die Vermutung angestellt, dass es Grublocks Traum war, die Stadt London mit einer so grandios inhumanen, so mächtig irrealen Struktur zu pfählen, dass man sie hundert Jahre lang völlig leerstehen lassen konnte, ohne dass jemand den Unterschied bemerkte, abgesehen vielleicht von den Sandwichverkäufern in der Umgebung. Wie eine Kathedrale in einer mittelalterlichen Stadt würde sie von überall sichtbar sein, und trotzdem würde nie jemand den Grund für ihre Lage und Form erfahren, niemand würde je durch ihre Türen eingelassen werden, und niemand würde je auch nur in Ansätzen die unglaublich komplexen finanziellen Transaktionen verstehen, die mutmaßlich in ihr vorgingen, Tag und Nacht, wie Streitereien unter Engeln; und obgleich die Lichter die ganze Zeit über brannten, wäre es unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, ob sie wirklich bewohnt war oder ob es sich nur um einen tausend Fuß hohen Obelisken handelte, ein Kryptogramm ohne Bedeutung, die reine Verneinung. Wenn ich über eines von Grublocks Projekten in der Zeitung las, fragte ich mich gelegentlich, ob er diese Nummer nicht schon längst abgezogen hatte. Einige Jahre zuvor hatte er, jeglichem ökonomischen Pessimismus spottend, sowohl in Schanghai als auch in Dubai Büros für Bauentwicklung eröffnet und mir erzählt, dass er zu viel Zeit in London verschwende, wo zwar jedermann gerne über den freien Markt rede, aber keiner genug Mumm habe, die letzten Fesseln zu lösen. Nur dass die Ebenen in Schanghai und Dubai noch größtenteils unbeschriebene Blätter waren, und ich war mir nicht sicher, ob er unbeschriebene Blätter mochte. Er mochte Störungen. Aber Störungen einer bestimmten Art. Bei Störung denkt man an den Angriff des Gekritzels auf das Raster, des Unlesbaren auf das Lesbare; was Grublock erreichte, war genau das Gegenteil.
Gegen sechs Uhr morgens musste ich den Nachtportier beschwören, mich nach oben in Grublocks Wohnung zu lassen. (»Nachtportier« war ein erniedrigender Ausdruck für einen Mann, der zehn Sprachen sprach, zwanzig Leute
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