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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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immer noch wütend auf dieselbe Seite und wünschte, er hätte sich einen glaubwürdigeren Fall ausgedacht als das blöde Beispiel mit dem Negroiden. Überhaupt fragte er sich, wie es kam, dass ein lächerlicher Streit so oft in derselben durch Adrenalin verursachten Übelkeit resultierte wie ein physischer Kampf. Gittins dagegen hatte sich sofort wieder Notizen über das Possessivsuffix gemacht, als sei nichts geschehen.
    Keiner von beiden sprach, bis Gittins »Gute Nacht« sagte und die Kerze ausblies, Erskine aber stumm blieb, weil er glaubte, in Gittins’ Ton einen Hauch von Spott wahrzunehmen. »Gute Nacht, Erskine«, wiederholte Gittins, dieses Mal lauter. Erskine blieb wieder stumm.
    Am nächsten Morgen gingen sie getrennt in den Wald. Jeder für sich konnten sie nur einen Bruchteil der gemeinsamen Ausbeute sammeln, aber Erskine wartete immer noch darauf, dass Gittins sich entschuldigte.
    Gegen Mittag, als er durch einen Bach watete und der Regen ihm mit seiner kalten Zunge über die Schultern strich, verfing sich Erskines Hose in einem Hindernis, und er fiel hin. Das Wasser spritzte, als er versuchte, wieder auf die Füße zu kommen, seine Hand schmerzte, und im Wasser entdeckte er Blut. Er war an einem Stück rostigem Stacheldraht hängengeblieben. Gegen Ende des Polnisch-Sowjetischen Krieges, nach der Schlacht von Warschau, hatten die Polen Meilen um Meilen davon in den Flüssen ausgelegt, um zu verhindern, dass die bolschewistischen Nachzügler vor ihren Hunden flohen. Wenn er das nicht gewusst hätte – wenn Gittins ihn nicht ausdrücklich davor gewarnt hätte –, wäre er vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass das Land, der Soldaten müde und voll mit Altmetall, gelernt hatte, aus eigener Kraft solch furchtbares Eisenunkraut hervorzubringen. Welche Fallen würde er noch im Gras finden, in den Bäumen? Was machte er hier? Wer zum Teufel machte sich überhaupt etwas aus Käfern? Zitternd hoffte er halb, dass die Wunde sich infizieren und er sterben würde, aber nachdem er ein Pflaster aufgeklebt und etwas Büchsenfleisch zu Mittag gegessen hatte, fühlte er sich schon besser.
    Als er am Abend zurückkehrte, konnte er den Gedanken an weitere vier Stunden qualvollen Schweigens mit Gittins nicht ertragen und machte deshalb einen Spaziergang durch das Dorf. Wie beim ersten Mal war es langweilig, aber auf dem Rückweg sah er den hübschen Jungen vom Abend zuvor aus einem Stall kommen. Auch der Junge war vermutlich auf dem Weg nach Hause, dachte er. Erskine stellte plötzlich fest, dass er dem Jungen folgte. Und dann wurde ihm klar, an wen er ihn erinnerte – die Person, für die er eine solche Leidenschaft empfand, deren Gesicht er zuletzt in London gesehen hatte. Eigentlich war es offensichtlich, aber erst das Gespräch mit Gittins hatte seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen. Es war Hitler.
    Er musste dem Jungen nicht weit folgen, bevor dieser in eine Hütte ging. Er wartete ein paar Minuten, dann schlich er zum Fenster und versuchte, hineinzuspähen. Er sah einen Tisch und eine Feuerstelle. Jemand klopfte ihm auf die Schulter.
    Er drehte sich um. Da stand der Junge. »Entschuldigung, ich habe nur …« Der Junge sagte in fragendem Tonfall etwas auf Polnisch. Erskine lächelte und nickte; er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Der Junge zog an seinem Ärmel.
    In der Hütte gab es wenig Licht. »Sind deine Eltern hier?«, fragte Erskine unsinnigerweise. Der Junge sagte noch etwas und führte ihn durch eine andere Tür. Er folgte dem Jungen in eine Schlafkammer, wo der Gestank nach Urin den Geruch nach Roter Bete und Holzfeuer überlagerte. Die Decke war so niedrig, dass Erskine sich bücken musste. Sein Herz klopfte, und er versuchte, nicht an das zu denken, was vielleicht geschehen würde. Aber dann sah er, dass der Junge ihm nur etwas zeigen wollte. An das Bett gebunden lag da der Bruder des Jungen. Er war wach, sein Körper zuckte. Das Engelskind. Als Erskine es anstarrte, wimmerte es, oder vielleicht sagte es Erskines Namen.
    Er war schon fast wieder beim Gasthof, als er sich in den Schlamm erbrach. Der Regen hatte aufgehört. Er wischte sich den Mund ab und ging hinein. Jetzt verspürte er den starken Wunsch, nicht allein an diesem Ort zu sein, und deshalb begrüßte er Gittins und fügte hinzu: »Etwas gefunden?«
    »Nicht viel.«
    »Ich auch nicht.«
    Später gingen sie zu Bett. Erskine fand die schiere Anarchie von Träumen äußerst erschreckend. Träume waren Tyrannen. Mitten in der

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