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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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er zu Bett gehen konnte, nachdem er es abgelehnt hatte, eine Partie Schach mit Kasimir Mowinckel zu spielen. Er hatte gehofft, Sinner liege vielleicht schon schlafend in seinem Klappbett, aber er war nicht da, und obwohl Erskine fast drei Stunden lang wach lag und auf das leise Knistern der defekten Steckdose in der Fußleiste lauschte, kam Sinner während dieser Zeit nicht nach oben. Erskine glaubte schon, seine Mutter habe die Entscheidung seines Vaters missachtet und Sinner ein Bett im Dienstbotentrakt zugewiesen, aber als er am Morgen aufwachte, war Sinner da und schlief.
    Ein paar Minuten lang sah er auf Sinner hinab, beobachtete, wie sich dessen Brust hob und senkte, und schwelgte für einen Augenblick in der amüsanten Erinnerung daran, wie Amadeo die Juden charakterisiert hatte: »abstrakt, heimatlos und schmierig«. Natürlich war Sinner heimatlos gewesen, als Erskine ihn am St.   Panteleimon’s gefunden hatte, und schmierig war der Junge auch, aber er hatte nie ein menschliches Wesen getroffen, das weniger abstrakt gewesen wäre. Er zog er sich an und ging nach unten. Der Frühstückstisch war nicht gedeckt worden, und das Haus machte einen merkwürdig ruhigen Eindruck – wie vor einer Überraschungsfeier. Er fand den Butler in der Halle.
    »Was ist denn los, Battle?«
    »Ich habe sehr beunruhigende Nachrichten, Sir. Mr.   Morton ist heute Morgen tot aufgefunden worden.«
    »Was in aller Welt meinen Sie damit?«
    »Der jüngere Herr Mowinckel hat seine Leiche im Teich entdeckt, Sir. Offenbar wurde er übel zusammengeschlagen. Die Polizei wurde bereits gerufen.«
    Mit steifen Beinen ging Erskine zu einem Bugholzstuhl und setzte sich. Er stellte sich vor, wie die Seiten der dritten Ausgabe der Pangaean Grammar and Lexicon um Mortons Körper wirbelten, sich auf seine Augen legten und sogar in seinen Mund und tief in seinen Hals rutschten.
    Wie konnte eine solche Tat geschehen sein? Nicht wenige der Gäste beim Dinner hatten Morton vermutlich am Ende verabscheut, aber von Amadeo vielleicht einmal abgesehen waren sie alle nicht vom Schlag eines Mussolini, und es hätte doch wohl keiner von ihnen einen anderen Faschisten wegen einer politischen Meinungsverschiedenheit umgebracht?
    Die wichtigste Frage war aber doch: Warum war Sinner in der vergangenen Nacht so spät zu Bett gegangen? Wo war er gewesen? Und dann erinnerte sich Erskine mit aller Klarheit an das, was er am Nachmittag zu Sinner gesagt hatte.

VIERZEHNTES KAPITEL
    Es gab eigentlich nur zwei Dinge, die Alex Godwin, der jüngste von Claramores Hausdienern, vom Leben wollte, und in der Hoffnung, dass er sich eines Tages beide würde leisten können, sparte er jeden Penny, den er von seinem kärglichen Lohn erübrigen konnte. Das erste war, dass Tara Southall, Evelyn Erskines Zofe, seine Frau und die Mutter seiner Kinder werden würde. Das zweite war ein erstklassiger Sicherheitsdoppelsarg.
    Als einer der nur mehr neunzehn verbliebenen Abonnenten des Burial Reformer , der Vierteljahreszeitschrift der Londoner Gesellschaft zur Verhütung vorzeitiger Beerdigungen, war Godwin Experte in der Technologie sicherer Begräbnisse, und nichts war ihm stärker zuwider als jene von den Deutschen »Leichenhäuser« genannten Wartehallen für Tote, die im neunzehnten Jahrhundert beliebt gewesen waren. Noch drei Tage, nachdem ein Arzt jemanden für tot erklärt hatte, lag die Leiche zusammen mit zwanzig oder dreißig Leidensgenossen in einem Saal, in dem die Holzbahren in Reihen aufgestellt waren wie die Betten im Schlafsaal einer Schule, das Ganze dekoriert mit Blumensträußen, um den Geruch zu übertünchen. An den Fingern und Zehen der Toten waren Drähte befestigt, die zu Stangen an der Decke führten und weiter zu den Hebeln eines Harmoniums, sodass die Aufseher es hörten, wenn irgendwelche Glieder zuckten. Jeden Abend war der Aufseher verpflichtet, einen kurzen Walzer auf dem Harmonium zu spielen, um sicherzustellen, dass alle notwendigen Teile funktionsfähig waren. Interessierte Besucher konnten die Leichenhalle gegen eine geringe Gebühr besichtigen.
    Das mochte ja in Deutschland oder Frankreich angehen, fand Godwin, nicht aber in England. Wenn ein Mann aus eigenem Antrieb nicht genügend Verantwortungsgefühl hatte, Vorkehrungen zu treffen, damit er nicht versehentlich lebendig begraben wurde, wie konnte er da erwarten, dass der Staat es für ihn tun würde? Das war Sozialismus in seiner albernsten Form. Godwin konnte für sich selbst sorgen, und deshalb

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