Flieg, Hitler, flieg!: Roman
annahmen, dass sie dem Design der Hotelkette ebenso gründlich angepasst worden sei wie der Rest des alten Hauses, nur um zu entdecken, dass die originalen Bücherregale erhalten geblieben waren – »als authentische historische Erinnerung«, wie es in dem Hotelprospekt hieß –, ebenso wie die gerahmten, aus dem Archiv stammenden Zeitungsartikel über den Mord an Julius Morton. Während eine Gruppe von Teilnehmern an einer Marketingkonferenz beim vormittäglichen Tomatensaft schwatzte, durchsuchte ich in einem Regal die schweren marmorierten Gästebücher, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreichten. Und auf diese Weise – genau wie Batman, der größte Detektiv der Welt, es vermutlich getan hätte – erfuhren wir, dass jemand namens »T. S.« aus »Roachmorton, Berkshire« von 1951 bis 1999 Claramore jeden Sommer besucht hatte. Zu diesem Zeitpunkt war mir Roachmorton natürlich noch unbekannt, und ich wusste nicht, dass es etwas mit Philip Erskine zu tun hatte, aber der Waliser war im Bilde, und er kannte auch den Namen von Evelyn Erskines flüchtiger Zofe.
Zuerst versuchten wir es bei der Telefonauskunft. Aber Tara Southall wurde theoretisch immer noch wegen Mordes gesucht, sodass sie offensichtlich nicht unter ihrem richtigen Namen dort leben konnte. In Wirklichkeit bestand nicht einmal Grund zu der Annahme, dass sie überhaupt noch lebte. Trotzdem kam Tara dem am nächsten, was im Fernsehen eine heiße Spur genannt wird, und etwas anderes hatten wir nicht. Deshalb verließen wir das Hotel und machten uns auf der Autobahn in Richtung Osten nach Roachmorton auf.
Auf dem Weg dorthin kam mir ein Gedanke: Wenn Tara Southall wirklich in der Stadt lebte, die der Bruder ihrer Herrin gebaut hatte, musste Philip Erskine aus bislang unerfindlichen Gründen dafür gesorgt haben, dass es so kam. Meine verstorbene Großtante, die in Cumbernauld gelebt hatte, hatte mir einmal etwas erzählt: Wenn jemand, der an einer New Town beteiligt war, seine Beziehungen spielen ließ, um einem Freund oder Verwandten ein Haus zu beschaffen, dann gehörte dieser Freund oder Verwandte zu den allerersten Bewohnern, die ihre Häuser bezogen. Und aus offensichtlichen Gründen würde man die ersten Bewohner im selben kleinen Wohngebiet ansiedeln. Das hieß, wenn wir dieses Gebiet fanden, konnten wir vielleicht auch herausfinden, ob es irgendwelche Frauen über neunzig gab, die seit der Fertigstellung der Stadt dort lebten. Um all das zu erfahren, war vermutlich ein wenig von dem erforderlich, was die Hacker »Pretexting« nennen. Von dieser Art der Informationsbeschaffung verstand ich nichts, aber ich konnte mir gut vorstellen, dass es sich bei dem Waliser anders verhalten würde, und tatsächlich kehrte er nach nur zehn Minuten vom Büro der Wohnungsbaugesellschaft von Roachmorton zum Parkplatz des Rathauses zurück, wo ich immer noch mit Handschellen an das Lenkrad gefesselt saß, und teilte mir mit, es gebe eine einundneunzigjährige Frau namens Tara Smith, die seit siebenundvierzig Jahren gegenüber der Galton-Grundschule lebe. (Es hatte keine weiteren Fluchtmöglichkeiten mehr gegeben, und es war mir auch nicht gelungen, den Waliser so lange hinzuhalten, bis die Polizei in Claramore auftauchte. Um ehrlich zu sein, hatte ich die meiste Zeit über vergessen, dass ich ihn überhaupt hinhalten sollte – mehr als einmal erwischte ich mich dabei, wie ich mich insgeheim daran erfreute, dass wir mit unseren Ermittlungen vorwärtskamen, so als seien wir nicht Geiselnehmer und Geisel, sondern Partner. Ich glaube, von einigen meiner Schlüsse könnte er aufrichtig beeindruckt gewesen sein. Ich weiß es nicht. Wie dem auch sei, schließlich war mir nur die Hoffnung geblieben, dass die Überwachungskameras auf der Autobahn wenigstens den Wagen aufgespürt hatten, doch niemand hatte uns erwartet, als wir in Roachmorton angekommen waren. Aber vielleicht war Stuart, als er sie anrief, auch so aus dem Häuschen darüber gewesen, in ein echtes Abenteuer verwickelt zu sein, dass sie ihm nicht geglaubt hatten?)
»Sind Sie Tara Southall?«, fragte der Waliser, als eine Frau die rosa gestrichene Haustür öffnete.
Es war gegen vier Uhr nachmittags.
»Ja«, sagte sie. »Wer sind Sie? Und was ist das für ein Geruch?« Sie trug ihr Haar lang, und ihre hohen Wangenknochen bewahrten ihr Gesicht vor der Geschlechtslosigkeit der sehr Alten.
Hinter uns war entfernter Lärm von einem Spielplatz zu hören.
Dieses eine Mal hatte der Waliser mir
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