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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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Drachen genommen, den man sich vorstellen konnte, und sie in den kompakten grauen Brei aus Dreck und Abfällen gesät, der in Whitechapel offenbar als Bürgersteig durchging. Rote Fahnen und Transparente aus Bettlaken flatterten in der Luft, Kinder rutschten Laternenpfähle hinauf, um besser sehen zu können, und schwangere Frauen lehnten in den Fenstern der rußigen Mietskasernen, die die Straße auf beiden Seiten säumten. Als er sich verzweifelt die Commercial Road hinunterdrängte, um zu einem Abschnitt zu gelangen, der lediglich unangenehm voll war, wurde Erskine klar, wie töricht es gewesen war, herzukommen. In der vergangenen Woche, als er zum ersten Mal in der Zeitung gelesen hatte, dass die Schwarzhemden einen Marsch durchs East End planten, hatte er überlegt, dass auch eine Menge Juden auf der Straße sein würden, um sich zu prügeln; und er kannte einen ganz bestimmten Juden aus dem East End, der sich, politisches Desinteresse hin oder her, eine solche Massenprügelei sicher nicht entgehen lassen würde. Und so war er in der Hoffnung nach Whitechapel zurückgekehrt, zufällig auf diesen einen Juden zu stoßen. Also gut, er war ein Idiot gewesen, hier jedenfalls bestand nicht die geringste Chance, auf jemanden zu treffen, den er kannte.
    »Ich vergess nie ein Gesicht.«
    Erskine drehte sich um. Vor ihm stand ein stämmiger Mann mit Narben auf den Wangen und dicken feuchten Lippen, die roher Kalbsleber ähnelten. Der Mann trug einen protzigen billigen Anzug und schwang etwas, das einmal ein Stuhlbein gewesen sein musste. »Du bist doch der feine Pinkel, der wo Sinner nach dem Kampf da auf ’n Geist gegangen ist. Vor ein, zwei Jahren.«
    »Ja – ich vermute, Sie haben recht«, sagte Erskine nervös.
    »Hast du gekriegt, was du wolltest?«
    Erskine hustete. »Nicht ganz.«
    »Hast dich verlaufen, was? Deine Leute sind weiter da unten.«
    Inzwischen sahen ein paar andere Männer ihn misstrauisch an. Erskine stellte sich vor, wie er an den Zehen aufgeknüpft wurde. »Nein, nein, ich bin auf Ihrer Seite.«
    »Ach ja?«
    »Ja.«
    »Bist du dir da sicher, Kumpel?«
    »Absolut.«
    »Hervorragend. Weiß gar nicht mehr, ob wir das letzte Mal ordentlich vorgestellt wurden. Mein Name ist Kölmel.«
    »Philip Erskine.«
    Sie gaben sich die Hand.
    »Wenn du auf unserer Seite bist, macht es dir bestimmt nichts aus, uns ein bisschen zu helfen, oder?«, sagte Kölmel heiter und schlug mit dem Stuhlbein in seine linke Handfläche.
    Er bekam eine Glatze, und die Haut auf seiner knochigen Stirn sah gespannt und blässlich aus, wie ein Kondom, das über eine Faust gezogen wurde.
    »Zu helfen?«
    »Ja.« Kölmel schien es ernst zu meinen.
    »Nein, natürlich nicht«, sagte Erskine. Deswegen bin ich – deswegen bin ich schließlich hier.«
    »Wir bauen ’ne Barrikade auf der Cable Street. Um die Ecke is ’n Müllplatz. Meine Jungs zeigen ihn dir. Bring einfach mit, was du findest – Holz, Blech, egal. Und streng dich an, klar? Nicht dass einer denkt, du bist ’n Doppelagent oder so was, haha!«
    »Nein, haha!«
    »Bis dann also.« Kölmel klopfte ihm auf die Schulter.
    Wie kam es, fragte sich Erskine, dass Sinners Freund in diesem Chaos noch Zeit fand, sein sadistisches kleines Spiel zu spielen? Er folgte einem von Kölmels Handlangern die Back Church Lane hinunter, zwei andere folgten in seinem Rücken, dann ging es nach rechts, wo auf einem abgezäunten Platz zwischen zwei Textilfabriken der Müll aufgetürmt war – größtenteils alte zersplitterte Stühle, aufgeplatzte Matratzen und zerbrochenes Porzellan, aber auch Fischgräten, Kürbisse, Pfützen von Speiseöl und sogar, wie Erskine voller Abscheu feststellte, der verwesende Körper eines Straßenköters. Dies, dachte er, und nicht Schwefel, war der Gestank der Hölle – der Duft, den diese schorfige, entzündete Wunde an der Wange der Stadt ausdünstete. Während er den Abhang des Müllbergs erklomm, wandte Erskine eine Technik an, die er bei den Kricketspielen in Winchester zur Perfektion gebracht hatte und die darin bestand, sowohl beschäftigt als auch unauffällig auszusehen, sodass alle vergaßen, dass man da war – und nachdem er ein paar Minuten so getan hatte, als begutachte er ein paar Holzplanken, brachen die anderen tatsächlich mit irgendwelchen Bruchstücken in den Armen zur Cable Street auf, ohne sich auch nur umzusehen und festzustellen, ob er ihnen folgte. Er nahm sein Taschentuch heraus, wischte sich die Finger ab, setzte sich auf eine

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