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Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Flieg, Hitler, flieg!: Roman

Titel: Flieg, Hitler, flieg!: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ned Beauman
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besuchte mich und fragte, ob ich nicht lieber irgendwo wohnen würde, wo es hübscher sei. Sie sagte, ihr Bruder habe irgendwas damit zu tun, aber dass es vielleicht trotzdem in Ordnung sei. Sie wusste es nicht besser und ich auch nicht, also sagte ich Ja, sie schrieb einen Brief an ihren Bruder, und er verschaffte mir ein Haus. Ich verließ alle Freunde, die ich gefunden hatte, und zog hierher. Und seitdem gab es keine Sekunde, in der ich es nicht bereut hätte.«
    Sie wirkte erleichtert, nachdem sie ihre Geschichte erzählt hatte.
    »Was ist aus Philip Erskine geworden?«
    »Er hat eine Amerikanerin geheiratet. Kann mich nicht an ihren Namen erinnern. Aber reich war sie – ihre Familie hatte ein Vermögen mit Zahnpasta gemacht, hieß es.«
    »Nein, ich meine …«, ich warf dem Waliser einen nervösen Blick zu, »… wo ist er jetzt?«
    »Der alte Mistkerl ist seit dreißig Jahren tot, Schätzchen. Er ist hier in der Nähe begraben.«
    Konnte Erskine seinen eigenen Tod vorgetäuscht haben? Nein, entschied ich, das war selbst nach den Maßstäben der letzten vierundzwanzig Stunden absurd. Aber in dem Fall war ich mit meinem Latein am Ende.
    »Und was ist aus Evelyn geworden?«
    »Hat sich mit einem sehr netten Mann vom Radio namens Ronald Slater zusammengetan. Aber sie hatten nicht viel Geld, und am Ende war alles ein bisschen schwierig. Dann ist sie auch gestorben. Ich bin die Einzige aus den alten Tagen, die so lange durchgehalten hat.«
    Tatsächlich hatte die Dodekakophonistin Evelyn Erskine, wie ich später aus Die Entdeckung der Harmonie erfuhr, in ihrer Karriere als Komponistin sehr zu kämpfen gehabt und war oft gezwungen gewesen, Partituren für die Horrorstreifen der Hammer Film Productions zu schreiben, um über die Runden zu kommen, bis sie schließlich beim BBC Radiophonic Workshop landete, wo sie Sachen mit Synthesizern anstellte, die offenbar seitdem niemand mehr hatte nachmachen können. Um diese Zeit begann sie eine lange Affäre mit Kasimir Mowinckel, der 1942 mit den geheimen Tagebüchern seines Vaters im Koffer nach Gibraltar geflohen und von einem britischen Schiff aufgegabelt worden war, worauf er sechs Monate der Internierung auf der Isle of Man hinter sich brachte und schließlich ein neues Leben als Bildhauer in London begann.
    »Und was ist mit Seth Roach?«, fragte ich. Meine Stimme brach, als ich die Frage stellte, weil mir in diesem Moment klar wurde, was vielleicht passieren würde, sobald der Waliser die Antwort erfuhr. Nicht nur Kevin Broom würde hoffnungslos überflüssig werden – vielleicht auch Tara Southall.
    »Ach ja, das wollten Sie ja eigentlich wissen, nicht wahr?«, sagte sie. »Der Junge. Wissen Sie, als Evelyn ihn zum ersten Mal gesehen hatte, im Frühjahr, bevor die Sache mit Morton passiert ist, kam sie zu mir und sagte: ›Dieser gutaussehende kleine Ganove wird unser aller Leben verändern. Ich bin mir ganz sicher. Das meines Bruders hat er schon verändert, und meins wird er auch verändern, ich weiß nur noch nicht wie.‹ Aber er hat’s nicht getan. Am Ende hat er gar nichts verändert, für niemanden. Wirklich schade, was passiert ist. Wir mussten natürlich alles geheimhalten. Wirklich schade.«

SIEBZEHNTES KAPITEL
    Oktober 1936
    Zum dritten Mal in seinem Leben stand Erskine vor dem Boxclub Premierland in der Commercial Road. Vor zwei Jahren, als er zum ersten Mal hier gewesen war, hatte er sich in einer sehr dichten, lärmenden Menschenmenge befunden, wie er damals gedacht hatte – aber tatsächlich war es nur das scheue und flüchtige Gerücht menschlicher Gesellschaft gewesen, eine geisterhafte und fast unmerkliche Berührung an den Ellenbogen, eine Art billige Alternative zu einem langen Kuraufenthalt an den einsameren Ufern des Genfer Sees im Winter. Heute, wo ihn die geballte Kraft von fünfhundert Millionen rachsüchtigen Cockneys auf die Breite einer Zigarette zusammendrückte, verstand er, was eine Menschenmenge wirklich war. Seit seiner Demütigung in Claramore widerte ihn die Hitze fremder Körper noch mehr an als üblich, und im Moment wurde er in dieser Hitze gedünstet: ein unendliches gnadenloses Gewühl irischer Hafenarbeiter, barfüßiger Schuljungen, zahnloser Betrunkener, eitriger Proleten und grotesker Chassidim, die alle gemeinsam heulten: »Lasst sie nicht hier rein!« und »Nieder mit Mosley!« und »Eins, zwei, drei, vier, den Kopf von Mosley wollen wir!«, als habe Cadmus die Zähne des ärmsten, schmutzigsten, hässlichsten

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