Fliegende Fetzen
an den Bibliothekar. »Du bist ziemlich… äh… geruchsintensiv…«
»Ugh?«
Der Bibliothekar nickte Karotte zu, zuckte Angua gegenüber mit den Schultern und wankte hinaus.
Langsam schob sie sich nach vorn.
Die Ohren teilten ihr mit, daß der Bibliothekar durch den Flur ging, denn sie hörte das Knarren der Dielen. Aber die Nase behauptete, daß er nach wie vor in unmittelbarer Nähe weilte. Der Geruch war nicht mehr ganz so stark wie vorher, aber…
»Ich muß die Gestalt wechseln«, sagte Angua. »Nur so bekomme ich eine klare Vorstellung. Es ist zu seltsam.«
Karotte schloß gehorsam die Augen. Sie hatte ihm verboten, ihr zuzusehen, wenn sie sich von einem Menschen in einen Werwolf verwandelte, denn die Übergangsphasen boten keinen angenehmen Anblick. Daheim in Überwald änderten die Leute ihre Gestalt mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der gewöhnliche Menschen die Kleidung wechselten. Aber es galt als höflich, vorher hinter einen Busch zu treten.
Als Karotte die Augen wieder öffnete, kroch Angua nach vorn und konzentrierte die ganze Wahrnehmung auf ihre Schnauze.
Die geruchliche Präsenz des Bibliothekars bildete eine komplexe Struktur: Pu
r
purne Schemen schwebten dort, wo er in Bewegung gewesen war, und sie gewannen fast feste Substanz, wo er gestanden hatte. Hände, Gesicht, Lippen… Innerhalb der nächsten Stunden würde eine sich immer mehr ausdehnende Wolke daraus entstehen, aber derzeit konnte Angua noch alle Einzelheiten riechen.
Hier gab es fast überhaupt keine Luftströmungen. Nicht einmal Fliegen schwirrten durch die tote Luft; nichts rief irgendwelche Strömungsmuster hervor.
Behutsam näherte sich Angua dem Fenster. Die visuellen Eindrücke blieben vage wie eine grobe Schwarzweißzeichnung des Zimmers, der die Nase schillernde Farben hinzufügte.
Am Fenster… am Fenster…
Ja! Ein Mann hatte hier gestanden, und der Geruch deutete darauf hin, daß er la
n
ge Zeit völlig reglos gewesen war. Die fremde Präsenz hing dort, am Rand ihres Wahrnehmungsvermögens. Etwas deutete darauf hin, daß das Fenster geöffnet worden war. Und hatte der Mann den Arm ausgestreckt?
Angua schnupperte und schnüffelte, versuchte die einzelnen Geruchsfragmente, die wie dünne Rauchschwaden im Zimmer schwebten, zur ursprünglichen Gestalt z
u
sammenzusetzen…
Nach einer Weile kehrte Angua zu ihrer Kleidung zurück und hüstelte höflich, als sie die Stiefel anzog.
»Es stand ein Mann am Fenster«, sagte sie. »Langes Haar, ein bißchen trocken, roch nach teurem Shampoo. Der Mann, der die Bretter wieder vors Fenster genagelt hat, nachdem Ostie ins Vorwerk gelangt war.«
»Bist du sicher?«
»Hat sich diese Nase jemals geirrt?«
»Entschuldige. Und weiter?«
»Ich würde sagen, daß er untersetzt ist, zu schwer für seine Größe. Er wäscht sich nicht oft, aber wenn, benutzt er billige Windspieß-Seife. Andererseits verwendet er teures Shampoo, was mir seltsam erscheint. Und er trug neue Stiefel. Und einen grünen Mantel.«
»Kannst du Farben riechen?«
»Nein, aber das Färbungsmittel. Es stammt aus Sto Lat, glaube ich. Und… ich
vermute,
daß er einen Bogen benutzt hat. Einen
teuren
Bogen. Es lag ein Hauch von Seidengeruch in der Luft, und die stärksten Bogensehnen bestehen doch aus Seide, oder? Damit stattet man sicher keinen billigen Bogen aus.«
Karotte stand am Fenster. »Von hier aus hat man einen guten Blick.« Er blickte auf den Boden, auf die Fensterbank, zu den Gestellen mit den Büchern.
»Wie lange war er hier?«
»Zwei oder drei Stunden, denke ich.«
»Er hat sich nicht viel bewegt.«
»Nein.«
»Rauchte und spuckte auch nicht. Stand einfach nur da und wartete. Ein Profi. Herr Mumm hat
recht.
«
»Ein Profi, der weitaus professioneller war als Ostie«, sagte Angua.
»Mit einem grünen Mantel…« Karotte schien laut zu denken. »Grüner Mantel, grüner Mantel…«
»Oh, und noch etwas.« Angua richtete sich auf. »Er hatte Schuppen.«
»
Schneetreiben Schuppert
?« entfuhr es Karotte.
»Wie?«
»Könnte man von einem sehr krassen Schuppen-Fall sprechen?«
»Oh, ja…«
»Deshalb hat man ihm den Spitznamen ›Schneetreiben‹ gegeben«, sagte Karotte. »Dunnelgurt Schuppert, der Mann mit dem verstärkten Kamm. Aber er soll nach Sto Lat umgezogen sein…«
»Dort gibt es das grüne Färbungsmittel«, sagten sie beide gleichzeitig.
»Kann er gut mit einem Bogen umgehen?« fragte Angua.
»Sogar sehr gut. Er versteht sich auch darauf, Leute umzubringen, die er
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