Fliegende Fische Band (Junge Liebe ) (German Edition)
seine Lippe. „Ich weiß nicht.“
Eine Illusion, zu glauben, er müsste sich nur die Unterlippe durchstechen lassen, damit sein Leben sich so anfühlt wie das von Mick.
„Gibt es etwas … das … nicht so teuer ist?“
„Ohrläppchen“, schlägt der Tätowierer vor. „Mach ich dir für einen Zehner.“
„Ohrläppchen hat doch jeder. Ist das nicht langweilig?“ Mick spricht ein wenig undeutlich, scheint aber schon wieder auf dem Weg der Besserung zu sein.
„Aber nicht jeder hat es in meinem Ohrläppchen“, sagt Daniel. „Da wäre ich jedenfalls der erste.“
„Huh? Egal. Wie gefällt es dir denn jetzt, mein neues Piercing?“
„Gut. Sieht schön aus.“
„Entscheidet euch“, sagt der Tätowierer. „Ich hab gleich einen Termin.“
„Augenbraue, mindestens“, sagt Mick. „Komm schon, sei kein Feigling.“
„Sagt der, der sich vor Angst fast in die Hosen gemacht hätte.“
„Egal. Ich hab’s durchgezogen, das ist alles, was zählt.“
„Und bei mir zählt, dass ich nicht mal eben fünfundzwanzig Euro für etwas Unnötiges wie ein Piercing ausgeben kann.“
„Ich bezahle für dich.“
„So weit kommt’s noch. Nein, vielen Dank.“ Und zu dem tätowierten Typ: „Ohrläppchen ist in Ordnung für mich.“
„Links oder rechts?“
„Keine Ahnung. Egal. Rechts.“
Keine zwei Minuten später hat Daniel ein durchstochenes Ohrläppchen, zehn Euro weniger und Mick an seiner Seite, der nicht aufhören will, zu grinsen, aber auch nicht verrät, warum. Draußen bei den Fahrrädern bleibt Daniel stehen und streckt die Hand aus. Mick schlägt ein.
„Das war nicht gemeint“, sagt Daniel.
„Huh?“
„Rück das Gras raus.“
„Oh. Ja. Fast vergessen.“
„Rück es raus.“
„Der Typ, von dem ich es habe, hat noch mehr davon. Wir könnten uns das hier reinziehen und später …“
„Rück es raus!“
Mick zieht den Kopf ein und gräbt zögernd das Tütchen aus seiner Hosentasche. Daniel reißt es ihm aus den Fingern und bringt es in der eigenen Hosentasche in Sicherheit.
„Du darfst sowieso nicht rauchen, bis dein Piercing abgeheilt ist“, sagt Daniel. „Eigentlich eine gute Gelegenheit, es sich abzugewöhnen.“
„Hab nie behauptet, dass ich das tun will“, murrt Mick und schwingt sich aufs Fahrrad.
„Solltest du aber. Ehe man sich versieht, ist man dran gestorben.“
„Ich nicht. Ich sterbe nie.“
„Du meinst wohl, dein Ego stirbt nie.“
„Was machst du jetzt noch?“
„Ich bringe das hier zurück.“ Daniel deutet auf seine Hosentasche. „Und sehe nach den Fischen. Danach … keine Ahnung.“
Irgendetwas war heute Nachmittag noch zu erledigen, aber die Wärme der Sonne liegt ihm angenehm auf den Schultern und Mick schaut ihn erwartungsvoll an, die Vorstellung, den restlichen Nachmittag entspannt mit ihm abzuhängen, ist viel zu verlockend.
„Danach gehen wir in den Park, legen uns in die Sonne und hören Musik“, schlägt Mick vor und Daniel willigt ein.
Sein Handy schaltet er aus, vorsichtshalber.
***
Gut wäre, so denkt er später, wenn man ein schlechtes Gewissen ebenso einfach ausschalten könnte wie ein Handy.
„Ich habe auf dich gewartet.“ Er hört, wie seine Mutter sich bemüht, den Vorwurf aus ihrer Stimme zu verdrängen. „Wir wollten zum Friedhof, wenn du dich erinnerst.“
„Ja“, sagt er. „Mist. Hab ich vergessen.“
„Warum war dein Handy nicht eingeschaltet? Ich habe versucht, dich zu erreichen.“
„Äh … der Akku hat schlapp gemacht. Passiert in letzter Zeit öfter.“
„So.“
„Ja.“
Sie stehen im schmalen Flur. Daniel schielt zu seiner Zimmertür. Der Nachmittag war schön, auf eine Art, die Daniel ständig darüber nachdenken lässt, wann es den nächsten solchen Nachmittag geben wird: Auf der Wiese liegen, die Wolken ziehen lassen, sich das Lautsprecherpaar des MP3-Players teilen. Belangloses reden, schweigen, herumalbern. Zusehen, wie Mick allmählich ruhiger wird und sich entspannt, ein ganz anderes Gesicht bekommt, eines, aus dem Trotz und Arroganz völlig weggewischt sind. Selber entspannen, mal für eine Weile gar nichts denken.
Schade nur, dass es so plötzlich vorbei war. Ein Anruf von Jo und eine Minute später war Mick weg. Jetzt hat Daniel Lust, sich in seinem Zimmer zu verkriechen, die Musik zu googeln, die Mick ihm vorgespielt hat und zu versuchen, ob er sie irgendwo im Internet anhören kann. In Gedanken noch ein bisschen auf der Wiese liegen, zusehen, wie Mick an seinem neuen Piercing
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