Fliegende Fische Band (Junge Liebe ) (German Edition)
spielt, Grasgeruch atmen.
„Was hast du denn da am Ohr?“
„Huh?“
Seine Mutter tritt an ihn heran und streicht ihm Haarsträhnen beiseite.
„Einen Ohrring“, sagt sie. „Schick. Ich wusste gar nicht, dass du vorhattest, dir einen Ohrring stechen zu lassen.“
„Hatte ich nicht. Es war eine Spontanaktion.“
„Na, hoffentlich war sie nicht zu teuer, deine Spontanaktion.“
„Nein, eigentlich nicht – das heißt, wenn es dir nichts ausmacht, bis zum Monatsende von Knäckebrot und Margarine zu leben.“
„Daniel …“
„Mann, Mama. Wann habe ich schon mal Geld ausgegeben, das wir nicht hatten?“
Sie seufzt und streicht ihm durch die Haare. Er fragt sich, wie alt er werden muss, bis sie begreift, dass er zu alt für solche Gesten ist.
„Ist schon okay“, sagt sie. „Wenn’s dir gefällt.“
Sie sieht ihn prüfend an.
„Hast du eine Freundin?“
„Was?“
„Du kommst plötzlich mit einem Ohrring. Du bleibst über Nacht weg, du vergisst unsere Verabredung – und du wirkst irgendwie verändert.“
„Ich hab keine Freundin. Ich werde einfach erwachsen, das ist alles.“
Sie grinst.
„Scheint eher, als hättest du einen Rückfall in die Pubertät.“
„Von mir aus.“
Sie nickt und verschränkt die Arme vor der Brust.
„Kommst du noch mit? Wenn wir gleich losfahren, können wir es noch schaffen.“
„Warum bist du nicht alleine gefahren?“
„Wäre dir das lieber?“
Sie sehen sich an. Daniel seufzt.
„Nein. Ja. Ich weiß nicht.“
„Weil ich Pflanzen gekauft habe und ich die alleine auf einem Fahrrad nicht transportieren kann.“
„Ach so. Ja, richtig.“
Und dann passiert es natürlich, dass er sich nicht in sein Zimmer verkriecht und Musik hört, sondern mit einer Bananenkiste voller Geranien auf dem Gepäckträger hinter seiner Mutter her durch die Stadt radelt und wirklich versucht, nicht darüber nachzudenken, was diese Pflanzen gekostet haben und wo das Geld wieder fehlen wird.
Auf dem Friedhof sind Fahrräder verboten und so tragen sie ihre Pflanzenkisten bis ganz nach hinten, an die Mauer, wo der Name „Roland Cornelius“ auf einem schmalen Grabstein steht. Daniel sieht zu, wie seine Mutter sich hinkniet und beginnt, Unkraut zu rupfen.
Es gibt viele Dinge, über die er lieber nicht nachdenken würde. Nicht nur darüber, wie teuer die Pflanzen waren. Auch darüber, ob es fair ist, einem toten Menschen Blumen zu schenken, wenn die Lebenden jeden Cent dreimal umdrehen müssen.
Er hasst solche Gedanken. Er sollte seinen Vater lieben, auch wenn der schon seit fast zehn Jahren tot ist. Er sollte sein Andenken ehren und alles. Ihm wenigstens ein schönes Grab gönnen, wenn er schon nicht mehr leben darf. Er sollte nicht die Blumen ansehen und darüber nachdenken, dass er von dem Geld vielleicht nach Berlin hätte fahren können, per Anhalter zumindest, um endlich das Aquarium im Berliner Zoo anzusehen.
Er wünscht sich diesen Trip schon so lange, aber immer, wenn er genügend Geld zusammen hat, passiert etwas. Das Fahrrad geht kaputt. Die Schule sammelt Geld ein. Seine blöden Füße wachsen aus den blöden Schuhen raus. Er braucht ein Geburtstagsgeschenk für Lilli. Sein Aquariumfilter gibt ratternd und gurgelnd den Geist auf.
Irgendwas ist immer.
Daniel fragt sich, ob es egoistisch ist, wenn man sich selbst den Trip nach Berlin mehr gönnen würde als dem Vater die Blumen auf dem Grab.
Kein guter Sohn würde so denken, oder?
Aber würde ein guter Vater seinem Sohn einen Wunsch abschlagen, für zwei Bananenkisten voller Geranien?
Geranien. Die riechen komisch, Daniel kann sich nicht erinnern, dass sein Vater eine besondere Vorliebe für diese Blumen gehabt hätte.
Daniel streckt die Hand aus und wischt Blätter und die vertrockneten Blütenstände einer alten Linde von der Grabsteinkante.
Und dann denkt er doch wieder an Mick. Wie er sich unbekümmert eine Zigarette ansteckt, als sei er unsterblich. Die Tatsache ignorierend, dass einen das Zeug unter die Erde bringen kann, langsam und qualvoll.
Daniel würde einiges drum geben, wenn er Mick das Rauchen abgewöhnen könnte. Er wundert sich selbst darüber, wie wichtig ihm dieser Wunsch ist.
Daniels Mutter ist mit Jäten fertig und beginnt, Löcher für die neuen Pflanzen zu graben.
Vielleicht sollte er mit Mick mal über Roland Cornelius reden. Ihm erzählen, wie es mit einem zu Ende gehen kann, der die Gefahren des Rauchens für überbewertet hielt.
„Mach dich nützlich“, sagt Daniels Mutter.
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