Flieh solange du kannst
Gerede von Rache und Vergeltung.”
“Irgendjemand muss ihm doch das Handwerk legen”, stieß er aufgebracht hervor.
“Und was willst du tun, wenn du ihm irgendwann einmal gegenüberstehen solltest?”
Diese Frage hatte Preston sich selbst schon tausendmal gestellt, aber noch immer keine Antwort darauf gefunden. Er schuldete es Dallas, die Angelegenheit ins Reine zu bringen. Er musste Vincent das Handwerk legen, damit er nicht noch mehr Kinder ins Unglück oder gar in den Tod stürzte. Aber wie weit würde er dafür gehen?
Er dachte an die Pistole, die er seit über einem Jahr bei sich trug. Würde er sie benutzen?
“Darüber denke ich nach, wenn es so weit ist”, sagte er. “Ich finde jeden Tag neue Hinweise. Vielleicht wird sich eines Tages ja sogar das FBI dafür interessieren.”
“Du weißt, dass das so gut wie unmöglich ist.”
Preston wusste ganz genau, was passiert war, aber ihm fehlten die nötigen Beweise. Und weil er in dieser Angelegenheit so verbissen war, glaubte ihm niemand. Sein Beharren darauf, dass Vincent den Tod seines Sohnes unmittelbar verschuldet hatte, rief im Allgemeinen nur mitleidiges Kopfschütteln hervor. Er hasste diese Reaktion. Nicht einmal Christy hatte sich auf seine Seite gestellt. Ihre Weigerung, ihn dabei zu unterstützen, Vincent zur Verantwortung zu ziehen, war die größte Enttäuschung von allen.
“Es ist jetzt zwei Jahre her”, fuhr seine Mutter fort. “Wie lange willst du noch so weitermachen?”
“Ich bringe die Sache zu Ende, egal wie lang es dauert.”
“Preston, bitte! Dallas ist tot, aber du lebst doch noch!”
Zwei Jahre hatte Preston sich leer und leblos gefühlt, aber seit Emma und Max in sein Leben getreten waren, änderte sich einiges. Mit einem Mal empfand er wieder Gefühle wie Sehnsucht, Zärtlichkeit, Geborgenheit und sogar Hoffnung. Aber diese Gefühle brachten auch ihren eigenen Schmerz mit sich, und das führte ihn zu der Frage, ob er allein und nur auf sich gestellt nicht besser dran wäre. Vor allem, weil seine Aufgabe noch nicht beendet war.
“Ich möchte nicht mehr darüber reden”, sagte er. “Es macht keinen Sinn. Wir werden nie einer Meinung sein.”
Er hörte, wie Emma im Nebenzimmer mit Max schimpfte, er solle still sitzen und aufpassen, dass er die Milch nicht verschüttete. Preston wollte zu ihnen gehen und mit ihnen frühstücken. Warum er sein Leben so viel angenehmer fand, wenn er mit ihnen zusammen war, darüber wollte er jetzt nicht nachdenken. Es war einfach gut, endlich mal wieder für jemanden da sein zu können. Wenn er sich um sie kümmerte, hatte sein Leben noch einen anderen Sinn als nur den, hinter Vincent herzujagen. “Ich muss jetzt Schluss machen. Ich rufe dich an, wenn ich in Iowa bin, okay?”
“Preston?”
“Was?”
“Tu bitte nichts Unüberlegtes. Es mag dir ja egal sein, was mit dir geschieht, aber ich bin immer noch deine Mutter. Wenn dir irgendetwas zustößt –” sie konnte nur noch mit Mühe sprechen “– dann bricht mir das Herz. Es war auch so schon alles furchtbar schwer.”
Preston fühlte sich schuldig, weil er so ungeduldig reagiert hatte. Er legte einen Arm über die Augen. Seine Mutter verstand zwar nicht, was ihn antrieb, aber sie liebte ihn. Sie war immer sehr fürsorglich gewesen, und er und seine Stiefschwester waren alles, was ihr nach dem Tod seines Vaters noch geblieben war.
“Ich passe schon auf mich auf”, versprach er.
Nebraska war tatsächlich genauso flach, wie man immer hörte, dachte Emma, nachdem sie die Grenze überschritten hatten. Auf beiden Seiten der Straße dehnten sich endlose Getreidefelder aus, immer noch grün, obwohl es schon Ende August war. Gelegentlich durchschnitten Feldwege die Äcker, und in der Ferne sah man einsam gelegene Bauernhöfe oder Scheunen.
Sie hörte Max zu, der mit seinem Lerncomputer spielte und versuchte sich vorzustellen, wie es wohl wäre, in so einer Gegend zu wohnen, mitten auf dem Land, umgeben von summenden Bienen und Blumenwiesen und dem entfernten Geräusch eines Traktors, der über ein Feld rumpelte, während der Sommerwind über die Ähren strich.
Es würde ihr bestimmt gefallen, dachte sie. Sie würde gern ein einfaches schlichtes Leben führen, draußen auf der Veranda eines kleinen Häuschens sitzen und Max dabei zusehen, wie er im Hof mit einem großen Hund spielte.
“Müde?”, fragte Preston.
Sie warf ihm einen Blick zu. Zur Abwechslung hielt er das Steuer einmal mit beiden Händen umfasst und steuerte
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