Flieh Wenn Du Kannst
Bonnie blieb mit einem halben Dutzend anderer zurück. Wie auf Kommando gingen sie alle hinüber zum nächsten Aufzug.
Dann bimmelte es wieder; wieder leuchtete ein grünes Lämpchen auf, diesmal pfiff Bonnie auf Rücksicht und Höflichkeit, drängte sich nach vorn durch und schob sich in den Aufzug, sobald die Tür sich geöffnet hatte.
»Entschuldigen Sie«, fuhr eine ältere Frau sie bissig an. »Ich würde gern aussteigen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Bonnie drückte sich in eine Ecke des Aufzugs und hielt ihren Blick starr auf die gegenüberliegende Wand gerichtet, während die Kabine sich füllte. »Könnte jemand auf zwei drükken?« fragte sie und tat so, als sähe sie sich um, als hätte jemand anders gefragt. Ihr war heiß, ihr schwindelte, sie hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, und war froh, daß der Aufzug so voll war, daß sie nicht umfallen konnte. Sie fragte sich, ob sie es überhaupt schaffen würde, allein zu stehen.
Sehr passend, diese Frage, dachte sie und lachte. Augenblicklich merkte sie, wie die anderen um sie herum trotz des Raummangels zurückwichen. Als die Tür sich in der ersten Etage öffnete, rückten diejenigen, die zurückblieben, noch weiter von ihr ab.
Als der Aufzug im zweiten Stock anhielt, zögerte Bonnie. »Ach, zum Teufel«, flüsterte sie unterdrückt und stieg aus. Jetzt war sie schon einmal hier. Warum also umkehren?
Langsam ging sie den langen Korridor hinunter zu Marys Zimmer und blieb vor der Tür stehen.
»Herein«, rief Mary von drinnen. »Worauf warten Sie?«
Bonnie öffnete die Tür.
Mary saß in ihrem Rollstuhl am Fenster und blickte auf den Park hinaus. »Die pflegen den Park sehr schön, nicht?« sagte sie, ohne sich umzudrehen.
»Ja«, stimmte Bonnie zu, blickte sich um und sah überrascht, daß Elsa Langers Bett wieder belegt war. »Guten Tag«, sagte sie zu der Frau, deren Gesicht schmal und dunkel war und beinahe etwas Aristokratisches hatte.
»Guten Tag«, erwiderte die Frau und bot ihr die Hand. »Ich bin Jacqueline Kennedy-Onassis.«
»Auf die brauchen Sie nicht zu achten«, rief Mary. »Die ist total übergeschnappt.«
Bonnie starrte sie an. War das nicht der Ausdruck, mit dem Rod immer seine geschiedene Frau beschrieben hatte?
»Erst haben sie mir eine ganz Junge reingelegt, jetzt diese Übergeschnappte.« Mary wandte sich vom Fenster ab und drehte ihren Stuhl in Bonnies Richtung. »Was haben Sie denn? Ist Ihnen die Spucke weggeblieben?«
Vorsichtig näherte sich Bonnie Marys Rollstuhl. Die alte Frau trug einen frischen, blau-weiß gestreiften Frotteemantel, und ihr braunes Haar, das von vielen Klemmen verschiedener Größe zusammengehalten wurde, schien frisch gefärbt zu sein. »Weshalb wollten Sie mich sehen?« fragte sie.
»Wer hat gesagt, daß ich Sie sehen will?«
»Sie selbst, als Sie bei mir angerufen haben. Sie ließen durchblicken, Sie hätten mir etwas zu erzählen.«
»Hab’ ich das?«
Bonnie seufzte. War sie deswegen hierhergekommen? Um mit einer kranken alten Frau ein unsinniges Gespräch zu führen? Aber wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ich natürlich Jacqueline Kennedy-Onassis nicht kennengelernt, dachte sie und sah die Frau in Elsa Langers Bett lächelnd an.
»Ich dachte, Sie hätten mir etwas über Elsa Langer mitzuteilen«, sagte sie.
»Über wen?«
»Über Elsa Langer«, wiederholte Bonnie.
»Teddy hatte keine Schuld«, erklärte die Frau im Bett plötzlich. »Er hat versucht, das Mädchen zu retten. Aber er war nie ein guter Schwimmer.«
»Ich soll Sie angerufen haben?« fragte Mary und klopfte sich in wachsender Erregung mit beiden Händen auf ihre Knie.
»Vor knapp zwanzig Minuten.«
»Da sind Sie aber schnell hergekommen.«
»Ich dachte, es wäre vielleicht wichtig. Sie haben sich ja offensichtlich einige Umstände gemacht, um meine Nummer zu bekommen.«
»Keine Spur«, erwiderte Mary wegwerfend. »Ich hab’ einfach die Schwester gefragt. Mir ist eingefallen, daß Sie Elsa gesagt haben, Sie würden Ihre Nummer dalassen.«
»Was ist Ihnen sonst noch eingefallen?«
»Wozu?«
»Zu Elsa«, versetzte Bonnie.
»Sie war langweilig«, erklärte Mary und verzog verächtlich den Mund. »Die ganze Zeit hat sie nur im Bett gelegen und kein Wort geredet. Jacky O. ist allerdings auch nicht viel besser.«
»Christina war ein sehr unangenehmes junges Mädchen«, bemerkte die Frau im Bett in vertraulichem Ton. »Ich hab’ mich wirklich um sie bemüht, aber sie wollte von mir nichts wissen. Sie
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