Flieh Wenn Du Kannst
ihren Schülern und ließ ihren Blick über die verwirrten Gesichter wandern. »Ich hoffe deshalb, ihr habt euch gut vorbereitet.«
Von Stöhnen und Kichern begleitet, ging sie rasch zwischen den Tischreihen hindurch und legte jedem Schüler ein Blatt hin. Als sie aufblickte, sah sie, daß jemand das Klassenzimmer wie zu einem Halloween-Fest im Kindergarten dekoriert hatte: Da hingen aus Papier ausgeschnittene Hexen, die auf Besenstielen ritten; Scherenschnitte schwarzer Katzen mit hohen Buckeln; orangefarbene Kürbisse mit grinsenden Gesichtern, in denen die Augen große schwarze Löcher waren.
»Ihr könnt anfangen, sobald ich die Blätter fertig ausgeteilt habe«, sagte sie den Schülern.
Lautes Gelächter war die Antwort.
»Würde mir vielleicht jemand sagen, was daran so komisch ist?« fragte sie.
Haze stand von seinem Stuhl auf und kam mit lässigem Schritt auf sie zu. »Ich hab’ eine Nachricht für Sie. Von Ihrem Vater«, sagte er. Eine selbstgedrehte Zigarette fiel aus der Brusttasche seines Hemds auf den Boden.
»Im Klassenzimmer wird nicht geraucht«, erinnerte Bonnie ihn.
»Er sagt, daß Sie ein ungezogenes Mädchen sind«, teilte Haze ihr mit und sah zu den Fenstern hinüber. Bonnie, deren Blick dem seinen folgte, sah eine große, aus Papier ausgeschnittene Boa constrictor, die sich zwischen den Lamellen der altmodischen Sonnenjalousie wand.
»Nein!« protestierte Bonnie. »Ich bin ein braves Mädchen.«
Plötzlich gab es Feueralarm. Die Schüler stürzten zur Tür. In ihrer Panik rissen sie Bonnie um und trampelten sie mit ihren schweren Stiefeln nieder. »Helft mir doch!« rief Bonnie ihnen zerschrammt und blutig nach, als die Papierschlange zu Boden fiel und lebendig wurde. Mit weit aufgerissenem Maul glitt sie ihr in Wellenbewegungen entgegen, während die Alarmanlage schrill zu bimmeln fortfuhr.
Bonnie schreckte in ihrem Bett in die Höhe, die Arme abwehrend vor sich ausgestreckt, das Läuten des Feueralarms im Ohr.
Es war das Telefon, das so läutete.
»O Gott«, sagte sie und versuchte sich zu beruhigen, indem sie ein paarmal tief durchatmete. Sie griff über den schlafenden Rod hinweg nach dem Telefonhörer und sah auf der Radiouhr, daß es fast zwei Uhr war. »Hallo?« Ihre Stimme war heiser, ihr Tonfall schwankte zwischen Panik und Entrüstung.
»Ich höre, du wolltest mich sprechen?«
»Nick?« Aufatmend lehnte sich Bonnie an das Kopfbrett des Bettes und zog dabei versehentlich das Kabel über Rods Gesicht. Er erwachte und öffnete die Augen.
»Was kann ich für dich tun, Bonnie?«
Entweder weiß er nicht, daß es mitten in der Nacht ist, oder es ist ihm gleich, dachte Bonnie und hatte augenblicklich das Bild ihres jüngeren Bruders vor sich: schmutzigblondes Haar, das ihm in die eng beieinander stehenden grünen Augen fiel, und eine kleine, zarte Nase, die in seinem harten Gesicht fehl am Platz wirkte. Seine Stimme und sein Ton waren wie immer – eine Mischung aus Charme und Unverschämtheit. Sie erinnerte sich, wie er sie immer zum Lachen gebracht hatte, und überlegte, wann ihr das Lachen vergangen war.
»Ich wußte gar nicht, daß du aus dem Gefängnis raus bist.«
»Du solltest häufiger anrufen.«
»Wohnst du jetzt bei Dad?«
»Ja, das war eine Bewährungsauflage. Gibt es einen Grund für dieses Gespräch?«
»Joan Wheeler ist heute ermordet worden«, sagte Bonnie und wartete auf seine Reaktion.
»Soll mir das etwas sagen?« fragte ihr Bruder nach einer längeren Pause.
»Das mußt du mir schon sagen, Nick. Die Polizei hat deinen Namen in Joans Adreßbuch gefunden.«
Die Telefonverbindung wurde unterbrochen.
»Nick?« Sie schüttelte den Kopf und reichte Rod den Hörer. »Er hat einfach aufgelegt.«
Rod setzte sich auf, fuhr sich mit der Hand müde durch sein wirres Haar und legte den Hörer auf. »Glaubst du denn, er könnte mit Joans Tod etwas zu tun haben?«
»Joan ruft mich morgens in aller Frühe an, um mir zu sagen, daß Amanda und ich in irgendeiner Gefahr schweben«, sagte Bonnie, laut nachdenkend. »Ein paar Stunden später ist sie tot, und in ihrem Adreßbuch finden wir den Namen meines Bruders. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
»Ich finde, wir sollten die ganze Sache der Polizei überlassen.«
»Die Polizei glaubt, daß ich es getan habe«, entgegnete sie.
Rod nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Nein, das glauben sie nicht. Sie glauben, daß ich es getan habe. Ich bin doch derjenige, der euer aller Leben versichert hat.
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