Flieh Wenn Du Kannst
wie immer, attraktiv auf eine nachlässig, beinah verächtliche Art, als empfände er sein gutes Aussehen als hinderlich, als etwas, das er mittlerweile zwar akzeptierte, mit dem er sich aber nie wirklich abfand. Sein erster Auftritt im Lehrerzimmer der Weston High School war bei den weiblichen Lehrkräften mit beifälligem Getuschel kommentiert worden. Alle hatten mehr über diesen sympathischen Witwer aus New York wissen wollen. Doch Josh Freeman hatte sich als ebenso unzugänglich wie attraktiv erwiesen. Er blieb meistens für sich, pflegte kaum Umgang mit den anderen Leute, auch wenn er den Kollegen stets freundlich und höflich begegnete. Was hat der Mann hier verloren, fragte sich Bonnie jetzt. Wie gut ist er mit Joan bekannt gewesen?
»Mr. Freeman ist hier«, flüsterte sie Sam zu, der auf Rods anderer Seite saß. Der Junge drehte sich um und winkte seinem Lehrer so lässig zu wie einem Kumpel, den er zufällig bei einem Baseball-Spiel gesichtet hatte.
Eine Frau näherte sich mit zögerndem Schritt. Ihre Augen waren vom Weinen gerötet und verschwollen. »Lauren«, begann sie und nahm die Hand des jungen Mädchens. Es war kaum festzustellen, wer von den beiden stärker zitterte. »Sam«, sagte sie zu Joans Sohn und versuchte zu lächeln, doch da begannen ihre Lippen so heftig zu beben, daß sie eine Hand auf ihren Mund drükken mußte, um nicht in Schluchzen auszubrechen. »Lyle und ich können es nicht fassen«, brachte sie mühsam hervor. »Es tut uns so entsetzlich leid.«
Bonnie bemerkte einen kleinen, stämmigen Mann, der hinter der großen blonden Frau stand, seine Hand fürsorglich auf ihrer Schulter.
»Eure Mutter war so ein wunderbarer Mensch«, fuhr die Frau fort. »Ich weiß, daß ich heute nicht hier stünde, wenn sie nicht gewesen wäre. Sie hat so viel für mich getan. Ich kann es nicht fassen, daß sie nicht mehr da ist. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß jemand ihr etwas angetan haben soll. Sie war ein großartiger Mensch. Wirklich.« Ein lautes Schluchzen kam über ihre Lippen. Ihr Mann umfaßte fester ihre Schulter und zerknitterte die feine Seide ihres dunkelblauen Kleides unter seiner Hand.
Ein großartiger Mensch? Eine wunderbare Frau? Von wem sprach diese Frau? Bonnie drehte sich nach Rod um, der die Frau mit einer Art befremdeter Distanziertheit anstarrte.
Lauren stand auf und zog die Frau tröstend an sich.
»Eigentlich sollte ich dich trösten«, sagte die Frau und neigte sich ein wenig zurück, um sich die Tränen aus den Augen zu wischen.
»Ich komme schon zurecht«, versicherte Lauren ihr.
Die Frau hob ihre Hand und strich Lauren sanft über die Wange. »Ja, das weiß ich.« Wieder versuchte sie zu lächeln, diesmal mit etwas mehr Erfolg. »Deine Mutter hat dich sehr geliebt, weißt du das? Sie hat so oft von dir gesprochen. Lauren dies und Lauren das. Meine kleine Lauren, hat sie oft gesagt, sie ist so ein schönes junges Mädchen. Sie war sehr stolz auf dich... auf euch beide«, fügte die Frau zu Sam gewandt etwas verspätet hinzu.
Sam nickte nur und sah rasch weg.
»Hör zu, wenn wir irgend etwas für euch tun können...« Die Frau brach ab, als Lauren sich wieder setzte. »Ihr wißt ja, wo wir zu erreichen sind.« Der Blick der Frau schweifte über Bonnie hinweg zu Rod.
Rod stand hastig auf. »Caroline«, sagte er und bot ihr die Hand. »Es tut mir leid, daß wir uns unter solchen traurigen Umständen wiedersehen. Hallo, Lyle.«
»Hallo, Rod«, erwiderte der Mann kühl.
»Ja, traurig, Rod«, erwiderte die Frau, ohne Rod die Hand zu reichen. »Du siehst gut aus.«
»Das klingt enttäuscht.«
»Wahrscheinlich habe ich Gerechtigkeit erwartet.«
Bonnie wurde sich bewußt, daß sie den Atem anhielt, während ihr Blick erschreckt zwischen den beiden hin und her flog, die einander offensichtlich feindselig gegenüberstanden. Wer waren diese Leute? Warum diese Feindseligkeit gegen ihren Mann?
»Ich danke euch, daß ihr gekommen seid«, sagte Rod sehr leise, kaum hörbar.
Die Frau richtete ihre Aufmerksamkeit auf Bonnie. »Sie müssen Bonnie sein. Joan hat Sie sehr geschätzt.«
»Wirklich?«
»Sorgen Sie gut für ihre Kinder«, drängte die Frau, ehe sie kehrtmachte und von ihrem Mann gefolgt davonging.
Bonnie sah ihren Mann an. »Was hatte das denn zu bedeuten? Wer sind diese Leute?«
»Das sind die Gossetts«, erklärte Rod und setzte sich wieder.
Bonnie erinnerte sich, daß die Namen in Joans Adreßbuch standen. Lyle und Caroline Gossett. Sie wohnten
Weitere Kostenlose Bücher