Flieh Wenn Du Kannst
bereit erklärt, seine Schwester für den Rest des Schuljahrs in ihre Schule zu fahren und dort wieder abzuholen. »Haben Sie seine Mutter gekannt?«
»Ich habe sie beim Elternsprechtag im November kennengelernt. Sie machte einen sehr netten Eindruck.« Tom O’Brian schüttelte den Kopf. »Schreckliche Geschichte. Schwer zu glauben.«
Danach schien es nichts mehr zu sagen zu geben, und es wurde still im Zimmer. Allmählich kehrten alle wieder zu dem zurück, womit sie vor Bonnies Erscheinen beschäftigt gewesen waren. Bonnie nahm sich einen Teil des Boston Globe, der auf dem niedrigen Resopaltisch vor ihrem Sessel lag, und blätterte ihn durch, erleichtert, ihren Namen nicht mehr in den Schlagzeilen zu finden. Andere Morde, grausamer und sensationeller, hatten Joans Geschichte verdrängt: ein tödliches Familiendrama in Waltham; eine Schießerei in der Newbury Street; die Story von einem jungen Paar, das beim Dessert in einem Schickeria-Bistro niedergestochen worden war.
Bonnie blätterte eilig weiter zum Lokalteil, überflog die Rezepte für fettarmen Schokoladenkuchen und ballastreiche Apfeltaschen, ignorierte einen Artikel über Sexualität im Alter und richtete ihre Aufmerksamkeit auf eine mit »Hausbesuch« überschriebene Ratgeberkolumne, für die zwei Ärzte verantwortlich zeichneten, die Allgemeinärztin Dr. Rita Wertman und der Familientherapeut Dr. Walter Greenspoon.
Wieso stand Dr. Greenspoons Name in Joan Wheelers Adreßbuch?
»Lieber Dr. Greenspoon«, begann der erste Liebesbrief. »Ich bin die Mutter eines hyperaktiven, siebenjährigen Mädchens, das meinen Mann und mich zur Verzweiflung treibt. Morgens will sie nicht aufstehen, schreit wie am Spieß, wenn ich sie zur Schule fahre und weigert sich, ihr Abendbrot zu essen oder zu Bett zu gehen. Mein Mann und ich sind völlig erschöpft und ständig gereizt. Ich habe Angst, daß unsere Ehe mit diesem Kind nicht mehr lange halten wird, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
»Liebe frustrierte Mutter«, begann Dr. Greenspoons Antwort, »Sie und Ihr Mann müssen lernen, im Einklang zu handeln...«
»Entschuldigen Sie, Mrs. Wheeler«, sagte jemand.
Bonnie ließ die Zeitung sinken und sah auf. Josh Freeman stand vor ihr, groß und schlank, ein zurückhaltendes Lächeln auf den Lippen. Er hatte etwas sympathisch Jungenhaftes, gleichzeitig jedoch warnte etwas an seiner Haltung sie, ihm zu nahe zu kommen.
»Mr. Freeman, guten Morgen«, sagte sie etwas verlegen.
»Sie sagten, sie würden sich gern einmal mit mir unterhalten.«
»Ach ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Bonnie wies mit dem Kopf zu dem freien Sessel neben dem ihren. Josh Freeman zögerte, setzte sich aber dann. »Wie gefällt es Ihnen eigentlich an der Weston High School?« fragte Bonnie, die nicht wußte, wie sie anfangen sollte. Sie war so verlegen wie bei ihrer ersten Verabredung mit einem Jungen. Was sollte das Ganze? Warum hatte sie ihn um dieses Gespräch gebeten? Worüber wollte sie überhaupt mit ihm sprechen?«
»Es gefällt mir sehr gut«, antwortete Josh Freeman. »Eine ganze Menge begabter, kreativer junger Leute. Ich brauch’ gar nicht viel zu tun, um sie zu motivieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie sich darüber mit mir unterhalten wollten.«
Von Smalltalk hält er also nicht viel, dachte Bonnie, die das normalerweise bewunderte.
»Es hat mich überrascht, Sie bei Joan Wheelers Beerdigung zu sehen«, erklärte sie offen.
Josh Freeman sagte nichts.
»Ich wußte nicht, daß Sie befreundet waren.«
Immer noch nichts.
»Sie sagen ja gar nichts«, meinte Bonnie, ihren Blick auf seinen Mund gerichtet. Sie hatte beinahe Angst, ihm in die Augen zu sehen.
»Sie haben mich nicht gefragt«, antwortete er.
Sie lächelte. Sie würde sich also ganz genau ausdrücken müssen, wenn sie von ihm etwas erfahren wollte, wobei ihr allerdings selbst nicht ganz klar war, was sie eigentlich zu erfahren hoffte.
»Wie gut waren Sie mit Joan bekannt?«
»Wir haben uns im November kennengelernt, beim Elternsprechtag. Danach haben wir verschiedentlich miteinander gesprochen.«
»Sie hatte Ihre private Telefonnummer.«
»Ja.« Bonnie holte tief Atem und zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Einen Moment war sie überrascht von der Klarheit, von der Intensität seines Blicks. »Sie machen es mir nicht sehr leicht.«
»Es ist nicht meine Absicht, es Ihnen schwerzumachen«, erwiderte er. »Ich weiß nur nicht, worauf Sie eigentlich hinaus wollen.«
»Hat die Polizei sich
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