Flieh Wenn Du Kannst
Schlangen haben, desto schneller wachsen sie. Abends dreh’ ich die Temperatur auf zweiundzwanzig Grad runter, aber nicht tiefer, weil Schlangen Kaltblüter sind und ihr Stoffwechsel sonst nicht richtig arbeitet.« Er wies auf den großen Stein, der ganz links im Terrarium lag. »Das ist ein Wärmestein. Siehst du den Stecker?«
Bonnie nickte.
»Ich achte darauf, daß der Stein immer neunundzwanzig Grad hat. Und die Lampen spenden auch noch Wärme.« Er zeigte auf einen Scheinwerfer oben auf dem Behälter. »Das hier ist eine Hundert-Watt-Lampe und die lange, die den ganzen Behälter entlangläuft, gibt ein besonderes Licht, dem Sonnenlicht ähnlich, damit L’il Abner auch seine Vitamine bekommt. Und das da ist sein Trinkwasser«, sagte er und wies auf eine rote Plastikschale, die mit Wasser gefüllt war. »Auf Wasser ist er ganz verrückt. Manchmal rollt er sich sogar in der Schale zusammen. Ich halte es immer auf sechs-bis siebenundzwanzig Grad. Und den Holzklotz hab’ ich dahin gestellt, damit er Schatten hat und auch mal spielen kann, wenn er will.«
»Spielen?«
»O ja. Boas sind sehr verspielt.«
Boas sind Boas, dachte Bonnie, sagte es aber nicht. »Und die Pappschachtel dort?«
»Da kriecht er gern zum Schlafen rein.«
Der Kopf der Schlange stieß gegen den Deckel des Glasbehälters. Unwillkürlich trat Bonnie einen Schritt zurück. »Er kann doch nicht raus, oder?«
»Nein, jetzt noch nicht. Aber wenn er größer wird, muß ich was Schweres oben drauflegen, damit er den Deckel nicht hochheben kann. Jetzt wiegt er ja nur ungefähr viereinhalb Kilo, aber Boas sind unheimlich stark, und wenn sie ausgewachsen sind, können sie bis zu neunzig Kilo schwer werden.«
»Du meine Güte!«
»Willst du ihn mal halten?«
»Was?«
»Er tut dir nichts, bestimmt nicht. Er ist wirklich ganz gutmütig.« Sam schob bereits den Glasdeckel zur Seite und hob die Schlange hinaus.
»Nein, Sam«, protestierte Bonnie. »Ich glaube nicht, daß das nötig ist.«
»Du brauchst wirklich keine Angst zu haben.« Sam hielt ihr die Schlange zur Begutachtung hin. »Ist er nicht ein Prachtstück? Schau mal, wie seine Farbe irisiert. An manchen Stellen ist er fast rot. In der Sonne ist er beinahe grün. Siehst du, wie da hinten, zum Schwanz hin, die Farben kräftiger werden und das Muster konzentrierter?«
Bonnie ließ ihren Blick langsam über den Körper der Schlange gleiten und sah dann starr vor Entsetzen, wie Sam den Kopf der Schlange zu seinem Mund hob.
»Siehst du? Er tut einem nichts.« Blitzschnell schoß die gespaltene Zunge der Schlange auf Sams Mund zu.
»Was tut sie denn jetzt?« Bonnie zwang sich näher zu treten.
»Schlangen nehmen Wärme mit der Zunge wahr. Ihre Zungen sind immer in Bewegung. Schau mal, wie lang die Zunge von L’il Abner ist.« Er drehte den Kopf der Schlange in ihre Richtung. »Siehst du den dunklen Streifen, der direkt durch seine Augen geht?«
Bonnie musterte die Augen zu beiden Seiten des Schlangenkopfes.
»Schlangen haben keine Augenlider, darum können sie ihre Augen nie zumachen«, erklärte Sam, seine Rolle als Lehrer offensichtlich genießend. »Faß ihn doch mal an. Es ist ein ganz tolles Gefühl. Wie wenn man Seide anfaßt.«
»Wie Seide«, wiederholte Bonnie wie ein Automat und streckte, ohne es eigentlich zu wollen, ihren Arm nach der Schlange aus. Mit den Fingern berührte sie den Körper der Schlange vorsichtig und behutsam. Sam hat recht, dachte sie, während sie den langen Schlangenleib mit wachsendem Zutrauen streichelte. Es fühlte sich tatsächlich wie Seide an.
»Willst du ihn nicht doch mal halten?« meinte Sam.
O Gott, nein, dachte Bonnie. »Na schön«, hörte sie sich sagen. War sie denn von allen guten Geistern verlassen? »Wie muß ich ihn halten?«
»Warte.« Sam führte eine ihrer Hände hinter den Kopf der Schlange, die andere zum Körperende.
»Und wenn er jetzt anfängt, sich zusammenzurollen?«
»Das macht nichts. Wir sind immer noch stärker als er. Hauptsache, du läßt ihn nicht fallen«, warnte Sam. »Das haßt er nämlich wie die Pest.«
Bonnie hielt die Schlange sehr fest, spürte, wie sie sich gegen ihren Zugriff wehrte und war überrascht über das Ausmaß an Kraft, das von ihren Wellenbewegungen ausging. Wirklich, von allen guten Geistern verlassen, dachte sie.
»Ich hab’ mein Leben lang Todesangst vor Schlangen gehabt«, sagte sie.
»Aber du machst das ganz prima«, versicherte ihr Sam.
Die Schlange drehte züngelnd ihren Kopf nach
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