Flieh Wenn Du Kannst
alles, was sie bewegte, für sich. In den zwei Wochen seit dem Tod ihrer Mutter war sie abwechselnd feindselig, passiv, aggressiv oder weinerlich gewesen. In den letzten Tagen war sie in eine Art Starrheit verfallen, eine Lethargie, die sie so lähmte, daß sie morgens kaum rechtzeitig aus dem Bett kam, unfähig war, sich zu konzentrieren, zu tun, was zu tun war. Vielleicht, hatte Bonnie gemeint, sei es für sie noch zu früh, schon wieder zur Schule zu gehen, aber davon hatte Lauren nichts wissen wollen. Sie werde schon zurechtkommen, erklärte sie störrisch, wenn sie man nur in Ruhe lasse. Einzig Amanda schaffte es, sie hin und wieder zum Lächeln zu bringen. Und Rod, auf den sie Abend für Abend wartete, ganz gleich, wie spät er nach Hause kam.
Vielleicht sollten sie sich ein paar Tage freimachen und alle zusammen wegfahren, hatte Bonnie Rod vorgeschlagen; sich ein paar Tage gönnen, um so vielleicht einander wirklich kennenlernen zu können. Sie selbst, sagte sie, begänne langsam, sich in ihrem eigenen Haus wie eine Außenseiterin zu fühlen. Sie wolle doch nichts weiter, als von den Kindern akzeptiert zu werden. Vielleicht könnten sie alle zusammen eine Therapie machen. Eine Familientherapie. Doch Rod erklärte, er könne sich im Augenblick keinen freien Tag leisten, und eine längere Therapie käme schon gar nicht in Frage. Im Grunde, erklärte er, brauchten sie nur Zeit. Sam und Lauren hätten Amanda bereits in ihr Herz geschlossen; es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie auch Bonnie akzeptieren würden.
Ich kann nur hoffen, daß du recht hast, dachte Bonnie, während sie jetzt, begleitet von den dröhnenden Bässen aus Sams Zimmer, die Karotten würfelte, die Gurke und die Tomaten in Scheiben schnitt und sich fragte, wie Sam diese Lautstärke aushielt. Sie hätte natürlich hinaufgehen und ihn bitten können, die Musik etwas leiser zu hören, aber das wollte sie nicht. Ihr war es als junges Mädchen nie erlaubt gewesen, einmal so richtig in lauter Musik zu schwelgen. Die Gesundheit ihrer Mutter war zu empfindlich gewesen, ihre Migränen zu häufig. Laute Radiomusik war Bonnie und Nick strikt verboten gewesen. Nick allerdings hatte sich um diese Verbote nie gekümmert.
Außerdem war ihr diese dröhnende Musik in gewisser Weise angenehm. Sie übertönte alles andere, drängte es in die hintersten Winkel ihres Bewußtseins, erstickte jeden ernsthaften Gedanken, der sich formen wollte, im Keim. Solange das Donnern des Schlagzeugs die Küche erschütterte, brauchte sie nicht über die Absurdität ihres Handelns nachzudenken – ihren Besuch bei Caroline Gossett am gestrigen Nachmittag, ihren Besuch bei Elsa Langer, ihren Termin bei Dr. Greenspoon. Warum tut sie das alles? Glaubte sie im Ernst, sie würde mit ihren dilettantischen Versuchen, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, etwas erreichen? Bildete sie sich im Ernst ein, wenn sie auf eigene Faust Nachforschungen anstellte, ihr Leben damit unter Kontrolle zu halten? War denn die Illusion der Kontrolle so wichtig für ihr Wohlbefinden?
Bonnie warf das kleingeschnittene Gemüse in eine Salatschüssel, stellte die Schüssel in den Kühlschrank und sah auf die Uhr. Es war fast fünf. Rod würde wieder spät nach Hause kommen; Sam und Lauren waren in ihren Zimmern; Amanda war auf einer Geburtstagsfeier und würde erst gegen sechs heimkommen. Sie konnte es sich leisten, ein paar Minuten die Beine hochzulegen und die Zeitung zu lesen. Sie konnte aber auch schon den Tisch decken und die Wäsche aufräumen.
Sie entschied sich dafür, die Beine hochzulegen. Sie nahm die Zeitung vom Küchentisch, die seit dem frühen Morgen da lag, und blätterte nach einem flüchtigen Blick auf die erste Seite schnell zum Lokalteil und Dr. Greenspoons Kolumne. Hausaufgaben, sagte sie sich. Recherchierarbeit.
»Lieber Dr. Greenspoon«, begann der erste Brief, »ich habe Angst, daß mein Mann homosexuell ist. Er zeigt schon seit einiger Zeit überhaupt kein sexuelles Interesse mehr an mir und hat sich in letzter Zeit auch emotional immer weiter von mir entfernt. Außerdem habe ich ganz unten in seiner Schublade einschlägige Literatur gefunden. Ich finde diese Vorstellung schrecklich, aber wenn mein Verdacht stimmt, so würde das einiges erklären. Wir haben schon lange nicht mehr miteinander geschlafen, trotzdem habe ich Angst vor Aids. Soviel ich weiß, hat die Krankheit eine lange Inkubationszeit. Habe ich Anlaß zur Sorge? Soll ich mit meinem Mann über meinen Verdacht
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