Fliehe weit und schnell
anrührend gewesen, an diesem Abend war sie bedrohlich.
»Lassen Sie Damas da raus, Kommissar«, sagte Decambrais, der das Schweigen brach. »Sie sind auf dem Holzweg, Sie irren sich gewaltig. Damas ist friedfertig und hat ein weiches Herz. Er hat niemanden umgebracht, niemals.«
Adamsberg antwortete nicht und ging zur Toilette, um Danglard anzurufen. Zwei Männer zur Überwachung der Wohnung von Marie-Belle, Rue de la Convention. Dann kam er zurück an den Tisch und setzte sich dem alten Gelehrten gegenüber, der ihn hochmütig ansah.
»Fünf Minuten, Decambrais«, sagte er und spreizte die Finger einer Hand. »Ich erzähle Ihnen eine Geschichte. Und es ist mir egal, ob ich Sie alle langweile, ich erzähle trotzdem. Und wenn ich erzähle, erzähle ich in meinem Rhythmus und in meinen Worten. Manchmal wirke ich damit einschläfernd auf meinen Stellvertreter.«
Decambrais reckte das Kinn in die Luft und schwieg.
»Im Jahre 1918«, begann Adamsberg, »kehrt Emile Journot, seines Zeichens Lumpensammler, gesund und unversehrt aus dem Ersten Weltkrieg zurück.«
»Das ist uns schnurz«, bemerkte Lizbeth.
»Sei still, Lizbeth, er erzählt. Laß ihm seine Chance.«
»Vier Jahre an der Front, ohne auch nur ein einziges Mal verwundet worden zu sein«, fuhr Adamsberg fort. »Praktisch wie ein durch ein Wunder Geheilter. 1915 rettet der Lumpensammler seinem Hauptmann das Leben, indem er diesen, als er verwundet im Niemandsland liegt, zurückholt. Bevor der Hauptmann ins Hinterland gebracht wird, schenkt er dem einfachen Soldaten Journot zum Zeichen der Dankbarkeit seinen Ring.«
»Kommissar«, sagte Lizbeth, »wir sind nicht hier, um uns schöne Geschichten aus der guten alten Zeit zu erzählen. Lenken Sie nicht ab. Wir sind hier, um von Damas zu reden.«
Adamsberg sah Lizbeth an. Sie war blaß. Zum erstenmal sah er eine schwarze Haut, die erblaßte. Ihr Teint war grau geworden.
»Aber die Geschichte von Damas ist eine Geschichte aus der guten alten Zeit, Lizbeth« erklärte Adamsberg. »Ich fahre fort. Für den Soldaten Journot war das kein vertaner Tag. Der Ring des Hauptmanns hat einen Diamanten, der größer ist als eine Linse. Den ganzen Krieg über bewahrt Journot ihn an seinem Finger, den Stein nach innen gedreht und mit Schlamm eingeschmiert, damit man ihm den Ring nicht klaut. Als er 1918 demobilisiert wird, kehrt er in sein Elend in Clichy zurück, den Ring aber verkauft er nicht. Für Emile Journot ist der Ring ebenso heilbringend wie heilig. Zwei Jahre später bricht die Pest in seinem Viertel aus und richtet eine ganze Gasse zugrunde. Aber die Familie Journot, Emile, seine Frau und ihre sechsjährige Tochter Clémentine, werden verschont. Es wird getuschelt, es kommt zu Anschuldigungen. Von dem Arzt, der Krankenbesuche in dem Viertel macht, erfährt Emile, daß es der Diamant ist, der ihn vor der Geißel schützt.«
»Ist dieser Blödsinn wahr?« fragte Bertin vom Tresen aus.
»In den Büchern ist er wahr«, erwiderte Decambrais. »Machen Sie weiter, Adamsberg. Es zieht sich.«
»Ich habe Sie gewarnt. Wenn Sie Neuigkeiten von Damas wollen, hören Sie mir so lange zu, wie es sich zieht.«
»Neuigkeiten sind Neuigkeiten«, erklärte Joss, »ob alt oder neu, lang oder kurz.«
»Danke, Le Guern«, sagte Adamsberg. »Sofort beschuldigt man Emile Journot, die Pest in der Hand zu haben, sie vielleicht sogar zu verbreiten.«
»Mit diesem Emile haben wir nichts zu schaffen«, erklärte Lizbeth.
»Er ist der Urgroßvater von Damas, Lizbeth«, erwiderte Adamsberg bestimmt. »Die Familie Journot wird fast gelyncht und flieht eines Nachts aus der Cité Hauptoul, die Kleine auf dem Rücken ihres Vaters, an den Müllhalden vorbei, auf denen sich pestverseuchte Ratten im Todeskampf winden. Der Diamant schützt sie, gesund und unversehrt finden sie bei einem Cousin in Montreuil Zuflucht und kehren erst nach dem Ende des Dramas wieder in ihr altes Viertel zurück. Ihr Ruf ist gemacht. Die Journots, gestern noch verabscheut, sind jetzt Helden, sind Herrscher, sie sind die Herren über die Pest. Ihre wundersame Geschichte begründet den Ruhm der Familie von Lumpensammlern und wird zu ihrer Devise. Emile vernarrt sich endgültig in seinen Ring und alle möglichen Pestgeschichten. Als er stirbt, erbt seine Tochter Clémentine den Ring, den Ruhm und die Geschichten. Sie heiratet und erzieht ihre Tochter Roseline stolz in der Verehrung der Macht der Journots. Diese Tochter heiratet später Heller-Deville.«
»Wir kommen
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