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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Damas zurecht«, bat Adamsberg. »Holen Sie eine Matratze aus dem Umkleideraum herunter, und richten Sie das Ganze so bequem ein, wie Sie können. Sie ist sechsundachtzig Jahre alt. Clémentine«, fuhr er fort und wandte sich wieder der alten Frau zu, »Schluß mit dem Mist. Packen wir diese Aussage jetzt an, oder fühlen Sie sich müde?«
    »Wir packen's an«, erwiderte Clémentine entschlossen.
     
    Gegen sechs Uhr abends verließ Adamsberg die Brigade, um ein Stück zu gehen, den Kopf schwer von den Enthüllungen Clémentine Courbets, geborene Journot. Er hatte ihr zwei Stunden lang zugehört und dann Großmutter und Enkel einander gegenübergestellt. Nicht ein einziges Mal war ihr Glaube an den bevorstehenden Tod der drei letzten Folterer erschüttert worden. Nicht einmal, als Adamsberg ihnen vor Augen geführt hatte, daß die zwischen dem Aussetzen der Flöhe und dem Tod der Opfer verstrichene Zeitspanne zu kurz, ja viel zu kurz gewesen war, um den Tod pestverseuchten Flöhen zuschreiben zu können. Diese Geißel ist immer bereit und untersteht dem Befehl Gottes, der sie schickt und sie wieder verschwinden läßt, wann es ihm gefällt, hatte Clémentine geantwortet und damit wörtlich die ›Spezielle‹ vom 19. September wiederholt. Nicht einmal, als Adamsberg ihnen die negativen Ergebnisse der Analysen gezeigt hatte, die die absolute Unschädlichkeit ihrer Flöhe bewies. Nicht einmal, als er ihnen die Fotos mit den Würgemalen vor die Nase gehalten hatte. Der Glaube, den sie in ihre Insekten setzten, vor allem ihre Gewißheit, daß in Kürze drei Männer sterben würden, einer in Paris, der andere in Troyes und der letzte in Châtellerault, waren unerschütterlich geblieben.
    Über eine Stunde lang ging er durch die Straßen und blieb dann gegenüber dem Sante-Gefängnis stehen. Dort oben streckte ein Gefangener einen Fuß zwischen den Gitterstäben hindurch. Es gab immer einen, der seinen Fuß rausstreckte und ihn in der Luft über dem Boulevard Arago baumeln ließ. Keine Hand, ein Fuß. Nicht mit Schuh, barfuß. Ein Typ, der genau wie er draußen herumlaufen wollte.
    Er betrachtete den Fuß, stellte sich den von Clémentine, dann den von Damas vor, wie sie sich unter dem Himmel streckten. Er hielt sie keinesfalls für komplett verrückt, von dem schmalen Irrweg, auf den ihr Mythos sie führte, einmal abgesehen. Als der Fuß plötzlich wieder in die Zelle zurückkehrte, verstand Adamsberg, daß noch etwas Drittes außerhalb der Mauern existierte, jemand, der bereit war, das begonnene Werk mit dem Kabelbinder in Paris, in Troyes und in Châtellerault zu vollenden.
     

35
     
    Adamsberg bog in Richtung Montparnasse ab und gelangte zur Place Edgar-Quinet. In einer Viertelstunde würde Bertin seinen abendlichen Donnerschlag ertönen lassen.
    Er stieß die Tür zum Viking auf und fragte sich, ob der Normanne es wagen würde, ihn beim Kragen zu packen, wie er es mit dem Gast am Tag zuvor getan hatte. Aber Bertin rührte sich nicht, während Adamsberg sich unter den Bug des Drachenboots zwängte und an seinem Tisch Platz nahm. Er rührte sich nicht, grüßte aber auch nicht, und ging hinaus, kaum daß Adamsberg sich hingesetzt hatte. Adamsberg begriff, daß binnen zwei Minuten der gesamte Platz darüber informiert sein würde, daß der Bulle, der Damas abgeführt hatte, im Café saß. Bald würde er eine ganze Truppe am Hals haben. Aus diesem Grund war er gekommen. Vielleicht würde das Decambraissche Abendessen an diesem Abend ausnahmsweise sogar im Viking stattfinden. Er legte sein Handy auf den Tisch und wartete.
    Fünf Minuten später stieß eine feindselig aussehende Gruppe von Menschen, die von Decambrais angeführt wurde und aus Lizbeth, Castillon, Le Guern, Eva und mehreren anderen bestand, die Tür des Cafés auf. Nur Le Guern schien der Situation relativ gleichgültig gegenüberzustehen. Umwerfende neue Nachrichten warfen ihn schon lange nicht mehr um.
    »Setzen Sie sich«, sagte Adamsberg fast im Befehlston und hob den Kopf, um den aggressiven Gesichtern, die ihn umgaben, die Stirn zu bieten.
    »Wo ist die Kleine?« fragte er und hielt Ausschau nach Marie-Belle.
    »Sie ist krank«, erwiderte Eva dumpf. »Sie liegt im Bett. Wegen Ihnen.«
    »Setzen Sie sich, Eva«, sagte Adamsberg.
    Binnen eines Tages hatte die junge Frau ein anderes Gesicht bekommen, und Adamsberg entdeckte darin eine Menge unvermuteten Haß, der den etwas altmodischen Charme ihrer Melancholie verdrängt hatte. Gestern noch war sie

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