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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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heißt?«
    »Das heißt, daß ich mit all den Denunzierungen, die da rumliegen, einiges über Sie weiß«, sagte Joss und deutete auf seinen Stapel Unsagbares. »Wie mir neulich abend Ururgroßvater Le Guern sagte, haben die Menschen nicht nur Schönes im Kopf. Zum Glück sortiere ich meine Linsen aus.«
    Decambrais erblaßte und suchte nach einem Hocker, um sich zu setzen.
    »Verdammt«, sagte Joss. »Sie brauchen nicht so zu erschrecken.«
    »Le Guern, haben Sie diese Denunzierungen noch?«
    »Hm, ja, ich leg sie zum Ausschuß. Interessiert Sie das?«
    Joss kramte in seinem Stapel mit Nichtverkauftem und streckte ihm die beiden Nachrichten hin.
    »Schließlich ist es immer von Nutzen, seinen Feind zu kennen«, bemerkte er. »Ein gewarnter Mann zählt für zwei.«
    Joss sah zu, wie Decambrais die Nachrichten auseinanderfaltete. Seine Hände zitterten, und zum erstenmal hatte Joss ein wenig Mitleid mit dem alten Gelehrten.
    »Regen Sie sich nicht unnütz auf«, sagte er. »Das ist Mist und Compagnie. Wenn Sie wüßten, was ich alles lese. Man muß die Scheiße in den Fluß fließen lassen.«
    Decambrais las die beiden Nachrichten, lächelte schwach und legte sie auf seine Knie. Joss hatte den Eindruck, daß er sich allmählich erholte. Was hatte der Aristokrat befürchtet?
    »Es ist nichts dabei, wenn einer klöppelt«, betonte Joss. »Mein Vater knüpfte Netze. Das ist dasselbe in gröber, stimmt's?«
    »Stimmt«, erwiderte Decambrais und gab ihm die Nachrichten zurück. »Aber es wäre besser, wenn sich das nicht rumspräche. Die Leute sind beschränkt.«
    »Sehr beschränkt«, bemerkte Joss und nahm seine Arbeit wieder auf.
    »Meine Mutter hat mir das Handwerk beigebracht. Warum haben Sie diese Anzeigen beim Ausrufen nicht vorgelesen?«
    »Weil ich Arschlöcher nicht mag«, antwortete Joss.
    »Aber mich mögen Sie auch nicht, Le Guern.«
    »Nein. Aber ich mag keine Arschlöcher.«
    Decambrais erhob sich und ging zur Tür. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um.
    »Das Zimmer gehört Ihnen, Le Guern.«
     

6
     
    Als Adamsberg gegen ein Uhr durch das Tor der Brigade trat, wurde er von einem unbekannten Oberleutnant angesprochen.
    »Oberleutnant Maurel, Kommissar«, stellte sich der Mann vor. »Da wartet eine junge Frau in Ihrem Büro. Sie wollte mit niemand anderem als mit Ihnen sprechen. Eine gewisse Maryse Petit. Sie ist seit zwanzig Minuten da. Ich habe mir erlaubt, die Tür zuzumachen, weil Favre ihr beistehen wollte.«
    Adamsberg runzelte die Stirn. Die Frau von gestern, die Geschichte mit den Graffiti. Verdammt, er hatte sie zu eifrig getröstet. Wenn sie jetzt jeden Tag kam, um ihm ihr Herz auszuschütten, würden sich die Dinge erheblich komplizieren.
    »Habe ich eine Dummheit gemacht, Kommissar?« fragte Maurel.
    »Nein, Maurel. Es ist mein Fehler.«
    Maurel. Groß, schmal, braune Haare, Akne, Unterbiß, feinfühlig. Akne, Unterbiß, feinfühlig gleich Maurel.
    Auf diese Weise vorgewarnt, betrat Adamsberg sein Büro und setzte sich mit einem kurzen Nicken an den Schreibtisch.
    »Oh, Kommissar, ich bin untröstlich, Sie schon wieder zu stören«, begann Maryse.
    »Einen Augenblick«, erwiderte Adamsberg, zog ein Blatt aus einer Schublade und konzentrierte sich darauf, den Stift in der Hand.
    Ein mieser, völlig abgenutzter Bullen- und Cheftrick: einen Graben ziehen und seinem Gegenüber zu verstehen geben, daß er oder sie ziemlich unwichtig sind. Adamsberg ärgerte sich über sich selbst, weil er ihn anwandte. Man glaubt, daß Welten einen von einem Leutnant Noèl trennen, der seine Jacke mit rascher Bewegung schließt, doch dann ertappt man sich bei viel schlimmeren Dingen. Maryse war sofort verstummt und hatte den Kopf gesenkt. Adamsberg vermutete, daß sie derlei Chefschikanen mehr als gewöhnt war. Maryse war recht hübsch, und wenn sie so vornübergeneigt dasaß, enthüllte der Ausschnitt ihrer Hemdbluse den Ansatz ihrer Brüste. Man glaubt, daß Welten einen von einem Brigadier Favre trennen, doch wenn es sich ergibt, suhlt man sich im selben Wildschweinloch. Auf seiner Liste notierte sich Adamsberg langsam: Akne, Unterbiß, feinfühlig, Maurel.
    »Ja?« fragte er und hob den Kopf. »Machen Sie sich immer noch Sorgen? Erinnern Sie sich, Maryse, das hier ist die Abteilung Kapitalverbrechen. Wenn Sie sich zu sehr ängstigen, würde Ihnen ein Arzt vielleicht mehr helfen als ein Polizist?«
    »Oh, vielleicht.«
    »Das ist gut«, bemerkte er und erhob sich. »Machen Sie sich keine Sorgen mehr,

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