Fliehe weit und schnell
Graffiti haben noch nie jemanden aufgefressen.«
Er öffnete die Tür weit und lächelte ihr zu, um sie zum Gehen zu ermuntern.
»Aber ich habe Ihnen das mit den anderen Häusern nicht gesagt«, begann Maryse.
»Welche anderen Häuser?«
»Zwei Häuser am anderen Ende von Paris, im 18. Arrondissement.«
»Ja und?«
»Schwarze Vieren. Da waren welche auf allen Türen, und zwar schon vor über einer Woche, deutlich vor denen bei mir im Haus.«
Adamsberg blieb einen Augenblick reglos stehen, dann schloß er die Tür behutsam wieder und deutete auf den Stuhl.
»Wer Graffiti macht, tut das doch eher bei sich im Viertel, nicht, Herr Kommissar?« fragte Maryse schüchtern, während sie sich wieder setzte. »Ich will damit sagen, in einem engen Territorium? Solche Leute kennzeichnen doch nicht irgendein Haus und dann ein ganz anderes am anderen Ende der Stadt, oder wie?«
»Außer wenn sie an beiden Enden von Paris wohnen.«
»Oh, ja. Aber im allgemeinen sind die in den Banden doch immer aus einem Viertel, nicht?«
Adamsberg schwieg, dann zog er sein Notizbuch hervor.
»Wie haben Sie davon erfahren?«
»Ich habe meinen Sohn zum Logopäden gebracht, er hat eine Leseschwäche. Während der Behandlung warte ich immer unten im Café. Ich habe die Stadtteilzeitung durchgeblättert, wissen Sie, die Neuigkeiten aus dem Arrondissement und dann die Politik. Da gab es eine ganze Spalte dazu, ein Haus in der Rue Poulet und eines in der Rue Caulaincourt, bei denen auf allen Türen Vieren waren.«
Maryse verstummte.
»Ich habe Ihnen das Blatt mitgebracht«, sagte sie dann und legte den Ausschnitt auf den Tisch. »Damit Sie sehen, daß ich keinen Blödsinn erzählt habe. Ich meine, daß ich nicht versucht habe, mich interessant zu machen oder so.«
Während Adamsberg den Artikel überflog, erhob sich die junge Frau, um zu gehen. Adamsberg warf einen Blick auf seinen leeren Papierkorb.
»Einen Augenblick«, sagte er. »Wir fangen noch mal von vorn an. Ihren Namen, Ihre Adresse, die Zeichnung dieser Vier und alles andere.«
»Aber das habe ich Ihnen doch gestern schon gesagt«, bemerkte Maryse ein wenig verlegen.
»Ich nehme lieber alles noch einmal auf. Als Vorsichtsmaßnahme, verstehen Sie.«
»Ach so«, meinte Maryse und setzte sich folgsam wieder hin.
Nachdem Maryse gegangen war, hatte Adamsberg beschlossen, ein Weilchen zu laufen. Eine Stunde auf einem Stuhl zu sitzen, ohne sich zu bewegen, war für ihn das äußerste. Abendessen in Restaurants, Kinovorstellungen, Konzerte, lange Abende in tiefen Sesseln bereiteten ihm - auch wenn er sie mit aufrichtigem Vergnügen begann - am Ende regelrechte physische Qualen. Ein übermächtiges Verlangen, hinauszugehen und zu laufen oder sich zumindest zu erheben, führte regelmäßig dazu, daß er die Gespräche, die Musik, den Film irgendwann verließ. Dieses Handicap hatte seine Vorzüge. Es erlaubte ihm zu verstehen, was die anderen Nervosität, Ungeduld oder das Gefühl von Dringlichkeit nannten, Zustände, die ihm in allen anderen Situationen des Lebens vollständig fremd waren.
Kaum war er aufgestanden oder hatte sich in Bewegung gesetzt, verschwand die Ungeduld, wie sie gekommen war, und Adamsberg fand zu seinem natürlichen langsamen, ruhigen und gleichmäßigen Rhythmus zurück. Er kam von seinem Spaziergang zurück, ohne sonderlich nachgedacht zu haben, aber mit dem Gefühl, daß es sich bei diesen Vieren weder um ein Graffito noch um den Streich eines Jugendlichen handelte, nicht einmal um einen Racheakt. Diese Serie von Ziffern hatte etwas unbestimmt Widerwärtiges an sich und löste vages Unbehagen aus.
Als die Brigade wieder in Sicht kam, wußte er auch, daß es nicht empfehlenswert wäre, Danglard davon zu erzählen. Danglard haßte es, wenn er sich in langwierigen und unbegründeten Wahrnehmungen verlor, die in Danglards Augen die Ursache aller polizeilichen Verirrungen waren. Im besten Falle nannte er das ›Zeit verlieren‹. Adamsberg konnte ihm noch so oft erklären, daß ›Zeit verlieren‹ niemals gleichbedeutend war mit verlorener Zeit. Danglard lehnte dieses System illegitimer Gedanken ohne rationalen Ansatz weiterhin energisch ab. Adamsbergs Problem bestand darin, daß er nie ein anderes System gekannt hatte und daß es sich nicht einmal um ein System handelte, auch nicht um eine Überzeugung oder selbst eine schlichte Anwandlung. Es war eine Neigung, und zwar die einzige, über die er verfügte.
Danglard saß in seinem Büro - sein Blick wirkte
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