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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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auch gefallen. Als sie mich aus dem Internat geschmissen haben, war er der einzige, den ich vermißt habe. Das waren nicht gerade Spaßvögel in Tréguier.«
    »Was haben Sie denn in Tréguier gemacht? Ich dachte, Sie kämen aus Le Guilvinec.«
    »Nichts hab ich da gemacht, das war's ja gerade. Ich war im Internat, damit sie mich da charakterlich wieder in Ordnung bringen. Sie haben sich die Klauen umsonst abgewetzt. Zwei Jahre später haben sie mich wieder nach Le Guilvinec geschickt, weil ich einen schlechten Einfluß auf meine Kameraden hatte.«
    »Ich kenne Tréguier«, sagte Decambrais leichthin, während er sein Glas füllte.
    Joss sah ihn skeptisch an.
    »Kennen Sie die Rue de la Liberté?«
    »Ja.«
    »Na, genau da war das Jungeninternat.«
    »Ja.«
    »Direkt hinter der Kirche Saint-Roche.«
    »Ja.«
    »Sagen Sie jetzt zu allem ›ja‹, was ich sage?«
    Decambrais sah ihn unter schweren Lidern an und zuckte mit den Schultern. Joss schüttelte den Kopf.
    »Sie sind besoffen, Decambrais«, sagte er. »Sie halten nicht mehr mit.«
    »Ich bin besoffen, aber ich kenne Tréguier. Das eine schließt das andere nicht aus.«
    Decambrais leerte sein Glas und forderte Joss mit einer Handbewegung auf, es erneut zu füllen.
    »Quatsch«, sagte Joss und schenkte ein. »Alles Quatsch, um mich für Sie einzunehmen. Wenn Sie glauben, ich wäre blöd genug, mich von jemandem weichklopfen zu lassen, nur weil dieser Jemand durch die Bretagne gezogen ist, sind Sie schwer im Irrtum. Ich bin kein Patriot, ich bin Seemann. Ich kenne Bretonen, die sind genauso dämlich wie die anderen.«
    »Ich auch.«
    »Sagen Sie das wegen mir?«
    Decambrais schüttelte matt den Kopf, und es herrschte ziemlich lange Schweigen.
    »Aber Tréguier kennen Sie wirklich?« begann Joss dann wieder mit der Beharrlichkeit derer, die zuviel getrunken haben.
    Decambrais nickte und leerte sein Glas.
    »Also ich kenne es eigentlich kaum«, sagte Joss, plötzlich betrübt. »Der Direktor des Internats, der alte Kermarec, hat dafür gesorgt, daß ich jeden Sonntag nachsitzen mußte. Ich glaube, die Stadt kannte ich nur durch die Fenster und die Beschreibungen meiner Freunde. Das Gedächtnis ist gemein, an den Namen von dem Dreckskerl erinner ich mich nämlich noch, aber nicht an den von dem Geschichtslehrer, dem einzigen, der mich verteidigt hat.«
    »Ducouèdic.«
    Joss hob langsam den Kopf.
    »Wie?« fragte er.
    »Ducouèdic«, wiederholte Decambrais. »Der Name Ihres Geschichtslehrers.«
    Joss kniff die Augen zusammen und beugte sich über den Tisch.
    »Ducouèdic«, bestätigte er. »Yann Ducouèdic. Sagen Sie mal, Decambrais, spionieren Sie mich aus? Was wollen Sie von mir? Sind Sie Bulle? Ist es das, Decambrais, sind Sie Bulle? Die Nachrichten sind dummes Zeug, das Zimmer, das ist dummes Zeug! Sie wollen nichts anderes als mich in Ihre Bullensache reinziehen!«
    »Haben Sie Angst vor den Bullen, Le Guern?«
    »Geht Sie das was an?«
    »Das ist Ihre Sache. Aber ich bin kein Bulle.«
    »So sehen Sie aus. Woher kennen Sie meinen Ducouèdic?«
    »Das war mein Vater.«
    Joss erstarrte, die Ellbogen auf dem Tisch, mit vorgestrecktem Unterkiefer und so betrunken wie unentschlossen.
    »Dummes Zeug«, murmelte er nach einer langen Minute.
    Decambrais öffnete sein Jackett und suchte mit unsicheren Bewegungen die Innentasche. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Personalausweis, den er dem Bretonen hinstreckte. Joss untersuchte ihn ausführlich, fuhr mit dem Finger über das Foto, den Namen und den Geburtsort. Hervé Ducouèdic, geboren in Tréguier, siebzig Lenze.
    Als er den Kopf hob, hatte Decambrais den Zeigefinger auf die Lippen gelegt. Schweigen. Joss nickte mehrfach.
    Das konnte er selbst in betrunkenem Zustand verstehen. Allerdings herrschte im Viking ein derartiger Lärm, daß man sich einigermaßen unterhalten konnte, ohne ein Risiko einzugehen.
    »Und... ›Decambrais‹?« murmelte er.
    »Dummes Zeug.«
    Also so was, Hut ab. Hut ab, Herr Aristokrat. Das mußte man ihm lassen. Joss nahm sich Zeit, um weiter nachzudenken.
    »Und... sind Sie nun adlig oder nicht?« fragte er dann.
    »Adlig?« erwiderte Decambrais und steckte den Ausweis wieder ein. »Sagen Sie mal, Le Guern, wenn ich adlig wäre, würde ich mir dann die Augen mit Klöppeln kaputtmachen?«
    »Vielleicht verarmter Adel?« fragte Joss beharrlich.
    »Nicht mal das. Nur verarmt. Nur Bretone.«
    Aus der Fassung gebracht, wie wenn eine Schrulle oder ein Traum sich unvermutet in

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