Fliehe weit und schnell
er sich an der schlechtrasierten Wange kratzte, »diese ›Speziellen‹, wie du sie nennst, na, die, die du an den Vornehmen weitergibst - also, wenn ich du wäre, würde ich da die Leinen losmachen. Das ist was Übles.«
»Sie sind bezahlt, Vorfahr, und zwar gut bezahlt«, erklärte Joss und zog sich wieder die Schuhe an.
Der Alte zuckte mit den Schultern.
»Wenn ich du wäre, würde ich die Leinen losmachen.«
»Das heißt?«
»Das heißt, was es heißt, Joss.«
Ohne etwas von dem Besuch Nicolas Le Guerns im ersten Stock seines eigenen Hauses zu ahnen, arbeitete Decambrais in seinem schmalen Büro im Erdgeschoß. Er fühlte, daß eine der ›Speziellen‹ dieses Tages etwas in ihm ausgelöst hatte, zwar kaum spürbar, aber vielleicht doch entscheidend.
Der Text vom Morgen war die anekdotische Fortsetzung der Nachricht, die Joss als ›Geschichte ohne Hand und Fuß‹ bezeichnet hatte. Ganz richtig, dachte Decambrais, es handelte sich tatsächlich um Auszüge aus einem Buch, mit denen man sich in seinem Milieu beschäftigt hatte. Warum? In der Hoffnung, daß diese vertrauten und doch nicht zu fassenden Sätze endlich den Namen ihres Schöpfers preisgeben würden, las Decambrais die Passagen wieder und wieder.
In der Kirche mit meiner Frau, die seit einem oder zwei Monaten nicht mehr dort war. (...) Ich frage mich, ob es an der Hasenpfote hegt, die dazu bestimmt ist, mich vor Winden zu schützen, aber ich habe keine Kolik mehr gehabt, seitdem ich sie trage.
Seufzend legte Decambrais das Blatt hin und sah sich das andere an, dasjenige, das etwas in ihm ausgelöst zu haben schien:
Et de eis quae significant illud, est ut videas mures et animalia quae habitant sub terra fugere ad superficiem terrae et pati sedar, id est, commoveri hinc inde sicut animalia ebria .
Darunter hatte er eine Schnellübersetzung mit einem Fragezeichen mitten im Text notiert: Und zu den Dingen, die das Zeichen dafür sind, gehört auch, daß du Ratten und jene Tiere, die unter der Erde wohnen, an die Oberfläche fliehen und leiden (?) siehst, das heißt, sie verlassen diesen Ort wie betrunkene Tiere.
Seit einer Stunde stieß er sich an diesem ›sedar‹, das kein lateinisches Wort war. Er war überzeugt, daß es sich nicht um einen Transkriptionsfehler handelte, denn dieser Oberlehrer war so gewissenhaft, daß er jede Kürzung, die er sich in den Originaltexten vorzunehmen erlaubte, mit Auslassungspunkten versah. Wenn der Oberlehrer ›sedar‹ geschrieben hatte, dann stand dieses ›sedar‹ mit Sicherheit mitten in einem Text in perfektem Vulgärlatein. Decambrais stieg auf seine alte Holzleiter, um an ein Wörterbuch zu gelangen - und hielt plötzlich inne.
Arabisch. Ein Wort arabischen Ursprungs.
Aufgeregt kehrte er an seinen Tisch zurück und bedeckte den Text mit beiden Händen, wie um ihn am Wegfliegen zu hindern. Arabisch, Latein, eine Mischung. Decambrais suchte rasch die anderen Anzeigen heraus, die die Flucht der Tiere an die Erdoberfläche beschrieben, einschließlich des ersten lateinischen Textes, den Joss am Vortag gelesen hatte und der fast identisch begann: Du wirst sehen.
Du wirst sehen, wie die Tiere, die aus der Verwesung entstehen, sich unter der Erde vermehren werden wie Würmer, Kröten und Fliegen, und wenn der Grund dafür unter der Erde liegt, so wirst du die Reptilien, die in der Tiefe leben, an die Oberfläche der Erde kommen und ihre Eier aufgeben und manchmal sterben sehen. Und wenn der Grund dafür in der Luft liegt, so wird es genauso mit den Vögeln geschehen.
Schriften, die voneinander abschrieben, manchmal wortwörtlich. Verschiedene Verfasser, die immer wieder eine einzige Idee wiederholten, noch bis ins 17. Jahrhundert hinein, eine Idee, die von einer Generation auf die nächste weitergegeben wurde. Nach Art der Mönche, die die Verordnungen der Auctoritas über die Jahrhunderte hinweg vervielfältigten. Eine Korporation also. Elitär, kultiviert. Aber keine Mönche, nein. Das hatte nichts Religiöses.
Die Stirn in die Hand gestützt, dachte Decambrais nach, und er dachte noch immer, als Lizbeths Ruf wie ein Gesang durchs ganze Haus erscholl, um die Bewohner zu Tisch zu bitten.
Als Joss ins Eßzimmer hinunterging, sah er, daß die Pensionsgäste des Hotel Decambrais, vertraut mit den Gepflogenheiten, bereits alle am Tisch saßen und ihre Servietten aus den hölzernen Serviettenringen zogen, von denen jeder ein besonderes Kennzeichen trug. Er hatte
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