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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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ohne Hand und Fuß, wie gewöhnlich«, sagte er. »Und dann eine andere, auf italienisch, wie heute morgen.«
    »Das war Latein, Le Guern.«
    Joss schwieg einen Moment.
    »Nun, ich mag das nicht. Dinge vorlesen, die man nicht versteht, ist keine ehrbare Arbeit. Was will der Kerl? Die Leute nerven?«
    »Sehr gut möglich. Sagen Sie, würde es Ihnen viel ausmachen, sie zu holen?«
    Joss leerte sein Glas und stand auf. Die Dinge nahmen nicht die erwartete Wendung. Er war verwirrt, so wie in jener Nacht auf See, in der alles an Bord in Unordnung geraten und es ihm nicht mehr gelungen war, die Position zu bestimmen. Man glaubte die Felsen steuerbords, und im Morgengrauen waren sie direkt vor einem, exakt im Norden. Er war gerade so an der Katastrophe vorbeigeschrammt.
    Während er rasch die Anzeigen holte, fragte er sich, ob Decambrais nicht vielleicht backbords war, wenn er ihn steuerbords glaubte; dann legte er ihm die drei elfenbeinfarbenen Umschläge auf den Tisch. Bertin hatte gerade das warme Essen gebracht, normannisches Schnitzel mit Kartoffeln, sowie einen dritten Krug Wein. Ohne weitere Verzögerung begann Joss zu essen, während Decambrais still für sich die Anzeige vom Mittag las.
    »Auf und zum Amt (mächtige Schmerzen am linken Zeigefinger von einer Verstauchung, die ich mir gestern zugezogen habe beim Kampf avec la femme que je gestern erwähnte); (...) meine Frau eifrig dabei, in eine Badestube zu gehen (...) und sich zu baden, nachdem sie so lange drinnen im Schmutz war, so daß sie sich nun etwas zugute tut auf ihren Entschluß, ab jetzt immer sehr sauber zu sein. Wie lange dies vorhält, kann ich mir denken. Verdammt, ich kenne den Text«, sagte er, als er ihn wieder zusammenfaltete und in den Umschlag steckte. »Aber ich sehe ihn wie durch Nebel. Entweder habe ich zuviel gelesen, oder mein Gedächtnis läßt mich im Stich.«
    »Manchmal läßt der Sextant einen im Stich.«
    Decambrais füllte erneut die Gläser und wandte sich der nächsten Anzeige zu:
    » Terrae putrefactae signa sunt animalium exputredine nascentium multiplicatio, ut sunt mures, ranae terrestres (...), serpentes ac vermes, (...) praesertim si minime in illis locis nasci consuevere. Kann ich die behalten?« fragte er.
    »Wenn Ihnen das hilft.«
    »Im Augenblick nicht. Aber ich werde es herausfinden, Le Guern, ich werde es herausfinden. Der Kerl spielt Katz und Maus, aber eines Tages bringt mich ein Wort mehr auf seine Spur, davon bin ich überzeugt.«
    »Um wohin zu kommen?«
    »Um herauszufinden, was er will.«
    Joss zuckte mit den Schultern.
    »Mit Ihrer Veranlagung hätten Sie nie Ausrufer werden können. Wenn man sich mit allem aufhält, was man liest, ist es das Ende. Man kann nicht mehr ausrufen, man erstickt. Ein Ausrufer muß über den Dingen stehen. Ich hab in meiner Urne wirklich schon einen Haufen Verrückte erlebt. Nur hatte ich noch nie einen, der mehr als den regulären Tarif gezahlt hätte. Auch keinen, der Latein gesprochen oder alte S in Form von ƒ geschrieben hätte. Man fragt sich, wozu das gut sein soll.«
    »Um gut getarnt vorzurücken. Zum einen redet er nicht selbst, wenn er andere zitiert. Merken Sie den Trick? Er macht sich nicht naß.«
    »Ich hab kein Vertrauen in Typen, die sich nicht naß machen.«
    »Zum anderen sucht er sich alte Texte aus, die nur für ihn allein eine Bedeutung haben. Er versteckt sich.«
    »Also, ich hab nichts gegen das Alte«, bemerkte Joss und fuchtelte mit seinem Messer herum. »Ich hab beim Ausrufen sogar immer ein Kalenderblatt aus der Geschichte Frankreichs, haben Sie es bemerkt? Das hab ich noch aus der Schule. Ich hab Geschichte gemocht. Ich hab nicht zugehört, aber ich hab's gemocht.«
    Joss aß fertig, und Decambrais bestellte einen vierten Krug Wein. Joss warf ihm einen Blick zu. Der Vornehme konnte offenbar einiges vertragen, selbst wenn man das, was er sich während des Wartens eingegossen haben mochte, gar nicht mitrechnete. Er selbst paßte sich diesem Rhythmus an, aber er spürte, wie ihm allmählich die Kontrolle entglitt. Er sah Decambrais, der alles in allem gar nicht so stabil wirkte, aufmerksam an. Sicher hatte er sich Mut angetrunken, um die Sprache auf das Zimmer zu bringen. Joss wurde bewußt, daß er selbst ebenfalls vom Kurs abwich. Solange man vom Hölzchen aufs Stöckchen kam, redete man nicht von dem Hotel, das war immerhin ein Ergebnis.
    »Im Grunde war's der Lehrer, den ich mochte«, erklärte Joss. »Wenn der chinesisch geredet hätte, hätte mir das

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