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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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begierig war, ihn zu sehen. Ja, da stand er, tadellos gekleidet im grauen Anzug, strich sich mit einer Geste sein weißes Haar zurecht und öffnete sein ledergebundenes Buch. Joss warf ihm einen gehässigen Blick zu und begann mit lauter Stimme, Anzeige Nr. 1 vorzulesen.
    Es war ihm, als habe er in seiner Ungeduld, zu erfahren, auf welche Weise Decambrais sein Wort widerrufen würde, das Ausrufen schneller absolviert als sonst. Fast hätte er sein abschließendes Kalenderblatt aus der Geschichte Frankreichs verhunzt, und er grollte dem Gelehrten noch mehr.
    »Französisches Dampfschiff«, schloß er unvermittelt, »3000 Tonnen, läuft auf die Felsen von Penmarch, treibt dann bis zum ›Fackelfelsen‹, wo es mit ausgeworfenem Anker sinkt. Mannschaft verloren.«
    Nachdem er das Ausrufen beendet hatte, zwang Joss sich dazu, seine Kiste mit gleichgültiger Miene zum Geschäft von Damas zurückzutragen, der gerade seinen Eisenladen hochzog. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Damas' Hand war ganz kalt. Logisch, bei dem Wetter, und immer nur mit Weste. Er würde noch krank werden, wenn er weiter so protzte.
    »Decambrais erwartet dich heute abend um acht im Viking«, sagte Damas und verteilte die Kaffeetassen.
    »Kann der seine Botschaften nicht selber ausrichten?«
    »Er hat den ganzen Tag Termine.«
    »Möglich, aber ich stehe nicht unter seiner Fuchtel. Der Vornehme ist schließlich nicht das Gesetz.«
    »Warum sagst du ›der Vornehme‹?« fragte Damas überrascht.
    »Na, hör mal, Damas, wach auf. Ist Decambrais nicht manchmal vornehm?«
    »Ich hab keine Ahnung. Ich hab mich das nie gefragt. Jedenfalls hat er nie Geld.«
    »Vornehme ohne Geld gibt's auch. Das kommt bei denen sogar besonders häufig vor.«
    »Ach so«, meinte Damas. »Das wußte ich nicht.«
    Er servierte den heißen Kaffee, scheinbar ohne den verärgerten Gesichtsausdruck des Bretonen zu bemerken.
    »Kommt dieser Pulli jetzt eigentlich heute, oder kommt er morgen?« fragte Joss mit einer gewissen Bissigkeit. »Glaubst du nicht, daß deine Schwester sich genug Sorgen gemacht hat?«
    »Bald, Joss, bald.«
    »Nimm's mir nicht übel, aber warum wäschst du dir nicht auch mal die Haare, wenn du schon dabei bist?«
    Damas hob erstaunt das Gesicht und warf seine langen braunen Locken zurück.
    »Meine Mutter sagte immer, die Haare eines Mannes sind sein ganzes Kapital«, erklärte Joss. »Nun, bei dir kann man nicht gerade behaupten, daß du es gewinnbringend anlegst.«
    »Sind sie dreckig?« fragte der junge Mann verwundert.
    »Ein bißchen schon. Nimm's mir nicht übel. Es ist in deinem Interesse, Damas. Du hast schönes Haar, du mußt dich drum kümmern. Sagt dir das deine Schwester nie?«
    »Ganz bestimmt. Ich vergesse es bloß.«
    Damas untersuchte die Spitzen seiner Haare.
    »Du hast recht, Joss, ich mach es gleich. Kannst du auf den Laden aufpassen? Marie-Belle kommt nicht vor zehn.«
    Damas sprang auf, und Joss sah ihm nach, wie er über den Platz in Richtung Apotheke rannte. Er seufzte. Armer Damas. Zu lieb, dieser Kerl, und zu gedankenlos. Würde sich das letzte Hemd nehmen lassen. Das ganze Gegenteil von dem Vornehmen, der alles im Kopf und nichts im Herzen hatte. Das Leben verteilte seine Gaben nicht gerecht.
    Abends um Viertel nach acht ertönte dröhnend Bertins Donnergrollen. Die Tage wurden allmählich mächtig kurz, der Platz lag bereits im Dunkeln, und die Tauben schliefen. Widerwillig ging Joss zum Viking hinüber. Er entdeckte Decambrais, der am hintersten Tisch saß, in dunklem Anzug und Krawatte und mit einem am Kragen abgewetzten weißen Hemd, vor sich zwei Krüge Rotwein. Er las - als einziger im ganzen Lokal. Er hatte den ganzen Tag Zeit gehabt, seine Rede vorzubereiten, und Joss war auf ein gutgeschnürtes Bündel mit Argumenten gefaßt. Aber da mußte schon ein anderer kommen, um einen Le Guern einzuwickeln. Mit Schnüren, Enden, Tauwerk und Trossen kannte er sich aus.
    Schwerfällig setzte sich Joss, ohne zu grüßen, und Decambrais füllte sofort die beiden Gläser.
    »Danke, daß Sie gekommen sind, Le Guern, ich wollte die Sache lieber nicht auf morgen verschieben.«
    Joss nickte nur und widmete sich ausführlich seinem Glas.
    »Haben Sie sie dabei?« fragte Decambrais.
    »Was?«
    »Die Anzeigen von heute, die speziellen Anzeigen.«
    »Ich schlepp nicht immer alles mit mir rum. Sie liegen bei Damas.«
    »Erinnern Sie sich?«
    Joss kratzte sich lange die Wange.
    »Da war wieder dieser Typ, der sein Leben erzählt,

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