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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Kommissariate anrufen wollte, ohne die berechtigte Verärgerung seines Stellvertreters auf sich lasten zu spüren. Danglard hatte auf einen Aktionskünstler getippt, eine Ansicht, die er nicht teilte. Aber von diesem Ausgangspunkt bis zu einer Ermittlung in allen Pariser Arrondissements war es ein ziemlicher Schritt, ein unnützer und unlogischer Schritt, den Adamsberg allein tun wollte. Am Morgen war er noch unentschlossen gewesen. Beim Frühstück hatte er erneut sein Notizbuch durchgeblättert und diese Vier angesehen, als ob er alles auf eine Karte setzte. Er hatte sich bei Camille dafür entschuldigt. Er hatte sie sogar gefragt, was sie darüber dachte. »Das ist hübsch«, hatte sie gesagt, aber direkt nach dem Aufstehen sah Camille überhaupt nichts und konnte den Postkalender nicht von einem Heiligenbild unterscheiden. Der Beweis dafür war, daß sie nicht ›Das ist hübsch‹ hätte sagen dürfen, sondern ›Das ist schrecklich‹. Behutsam hatte er geantwortet: »Nein, Camille, das ist durchaus nicht hübsch.« In diesem Augenblick, bei diesem Satz, während er ihr widersprach, hatte er sich entschieden.
    Mit leicht verlangsamten Bewegungen nach seiner kurzen Nacht, den Körper in wohltuende Müdigkeit gehüllt, wählte er die erste Nummer auf seiner Liste.
     
    Gegen fünf Uhr war er damit fertig und nur ein einziges Mal in der Mittagspause ein bißchen gelaufen. Camille hatte ihn auf seinem Handy angerufen, als er gerade auf einer Bank saß und ein Sandwich aß.
    Nicht, um leise einen Kommentar zur vergangenen Nacht abzugeben, nein, das war nicht Camilles Art. Camille sonderte Worte nur mit großer Diskretion und sehr zurückhaltend ab. Sie überließ es ihrem Körper, etwas auszudrücken was, das wußte man nie ganz genau.
    In sein Notizbuch schrieb er: Frau, Intelligenz, Verlangen gleich Camille. Er brach ab und las die Zeile erneut. Große Wörter und platte Wörter. Aber auf Camille angewandt, stiegen sie auf, als seien sie ganz klar. Er konnte fast zusehen, wie sie an der Oberfläche des Papiers Blasen bildeten. Gut. Gleich Camille. Es war sehr schwierig für ihn, das Wort Liebe zu schreiben. Der Kugelschreiber bildete das ›L‹ und erstarrte dann über dem ›i‹, zu beunruhigt, um weiterzumachen. Dieses Zögern hatte ihn lange irritiert, bis er es, weil er häufig mit der Liebe zu tun hatte, geschafft hatte, in ihr Zentrum vorzudringen, so meinte er. Er liebte die Liebe. Das, was die Liebe mit sich brachte, liebte er nicht. Denn die Liebe brachte Folgen mit sich, da es utopisch war, ausschließlich im Bett zu leben, und seien es nur zwei Tage. Eine ganze Spirale von Folgen, von ein paar luftigen Ideen in Gang gesetzt und von ein paar stabilen Mauern zum Stillstand gebracht, aus welchen die Liebe scheinbar niemals fliehen konnte. Nachdem sie wie ein Strohfeuer zwischen zwei Türen und unter freiem Himmel ausgebrochen war, endete ihr Lauf zwischen vier Wänden auf dem Boden eines Kamins. Und auf einen Menschen wie Adamsberg wirkte diese Spirale der Folgen wie eine quälende Falle. Er floh schon den Schatten, den sie vorauswarf, er witterte ihre Gegenwart schon lange vorher - mit jenem unvergleichlichen Gespür, das vielfach geprüften Opfern eigen ist, die noch den leisesten Tritt ihrer Feinde wahrnehmen. Bei diesen Fluchten hatte er bisweilen den Verdacht, daß Camille ihm eine Nasenlänge voraus war. Camille und ihr regelmäßiges Fernbleiben, ihre zurückhaltenden Gefühle, ihre Stiefel immer auf der Startlinie. Doch Camille spielte ihre Partie im verborgenen und weniger mit Härte als mit Wohlwollen. So war es für jeden, der sich nicht die Zeit nahm, länger darüber nachzudenken, schwierig, jenen Leitinstinkt bei ihr aufzuspüren, der sie ins Freie trieb. Und Adamsberg mußte zugeben, daß er das Nachdenken über Camille etwas vernachlässigte. Manchmal fing er damit an und kam dann vom Weg ab, von anderen Gedanken gelockt, von einem Gedanken zum nächsten getrieben, bis jenes Bildermosaik entstand, das bei ihm dem Zustand der Leere vorausging.
    Sein geöffnetes Notizbuch noch immer auf den Knien, beendete er die Zeile und setzte im Lärm der Bohrhämmer, die sich an die steinernen Fensterrahmen machten, einen Punkt hinter das L. Camille hatte ihn also nicht wechselseitiger Gratulationen wegen angerufen, sondern aus einem viel prosaischeren Grund: Sie wollte mit ihm über diese Vier reden, die er ihr heute morgen gezeigt hatte. Adamsberg erhob sich und bahnte sich über mehrere Haufen

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