Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
gezögert, sich bereits an diesem Abend der Tischgesellschaft anzuschließen - das Halbpensions-Abendessen war nicht obligatorisch, vorausgesetzt, man hatte seine Abwesenheit am Vorabend mitgeteilt -, da ihn plötzlich Verlegenheit befallen hatte. Joss war es gewohnt, allein zu leben, allein zu essen, allein zu schlafen und allein zu reden, von seltenen abendlichen Essensbesuchen bei Bertin abgesehen. In den dreizehn Jahren seines Pariser Lebens hatte er für jeweils recht kurze Zeit drei Freundinnen gehabt, nie aber hatte er es gewagt, sie in sein Zimmer mitzunehmen und sie mit der auf dem blanken Boden liegenden Matratze zu begrüßen. Die Wohnungen der Frauen waren, so bescheiden sie auch sein mochten, immer gastlicher gewesen als sein heruntergekommenes Refugium.
    Joss bemühte sich, diese aggressive, linkische Schwerfälligkeit, die aus den fernen Zeiten seiner Jugend herzurühren schien, abzuschütteln. Lizbeth lächelte und hielt ihm seinen persönlichen Serviettenring hin. Wenn Lizbeth so breit lächelte, verspürte er in einer plötzlichen Anwandlung das Bedürfnis, sich an sie zu klammern wie ein Schiffbrüchiger, der in der Nacht auf einen Felsen stößt. Ein herrlicher Felsen, rund, glatt und dunkel, dem man ewig dankbar wäre. Das erstaunte ihn. Er empfand diese gewaltige Gefühlsaufwallung nur bei Lizbeth und nur, wenn sie lächelte. Ein allgemeines Murmeln der Pensionsgäste hieß Joss, der rechts von Decambrais Platz nahm, willkommen. Lizbeth präsidierte am anderen Ende des Tisches und war mit Bedienen beschäftigt. Anwesend waren die beiden anderen Pensionsgäste des Hotels, Zimmer l, Castillon, ein pensionierter Schmied, der die erste Hälfte seines Lebens als Taschenspieler durch die Cabarets von Europa getingelt war, sowie Zimmer 4, Evelyne Curie, eine kleine Frau unter Dreißig, unscheinbar, mit sanften, altmodischen Gesichtszügen, den Kopf tief über den Teller gebeugt. Lizbeth hatte Joss gleich bei seiner Ankunft im Hotel aufgeklärt.
    »Vorsicht, Seemann«, hatte sie ihn ermahnt und ihn unauffällig ins Bad gezogen. »Keine Schnitzer. Den Castillon brauchst du nicht mit Samthandschuhen anzufassen, der ist ziemlich robust und hält sich für unverwundbar, was Scherze angeht, das sagt zwar nichts über sein Inneres, aber du gehst kein Risiko ein, was kaputtzumachen. Mach dir keine Sorgen, wenn du merkst, daß deine Uhr während des Abendessens verschwindet, es überkommt ihn immer wieder mal, aber er gibt sie dir zum Nachtisch zurück. Unter der Woche gibt es Kompott oder frisches Obst der Saison, am Sonntag Grießpudding. Hier gibt's kein Plastikessen, du kannst unbesehen zugreifen. Aber paß auf mit der Kleinen. Sie lebt hier seit achtzehn Monaten in Sicherheit. Sie ist aus der ehelichen Wohnung abgehauen, nachdem sie sich acht Jahre lang hat verdreschen lassen. Acht Jahre, kannst du dir das vorstellen? Anscheinend hat sie ihn geliebt. Na ja, am Ende ist sie zur Besinnung gekommen und eines schönen Abends hier aufgekreuzt. Aber aufgepaßt, Seemann. Ihr Mann sucht sie in der ganzen Stadt, um ihr den Hals umzudrehen und sie in den Schoß der Familie zurückzuführen. Natürlich paßt das nicht zusammen, aber so funktionieren diese Typen eben, die haben nun mal kein großes Repertoire. Er ist bereit, sie umzulegen, damit sie niemand anderem gehört, du hast gelebt, du kennst das Lied. Also: Den Namen Evelyne Curie kennst du nicht, du hast ihn nie gehört. Hier nennen wir sie Eva, das verpflichtet zu nichts. Kapiert, Seemann? Behandle sie rücksichtsvoll. Sie redet nicht viel, sie schreckt oft hoch, sie wird rot, als ob sie immer noch Angst hätte. Nach und nach wird sie sich wieder erholen, aber das braucht Zeit. Was mich angeht, so kennst du mich, ich bin ein gutmütiges Mädchen, aber anzügliche Witze kann ich nicht mehr ausstehen. Das ist alles. Geh runter zu Tisch, es ist bald Zeit, und besser, du merkst es dir gleich zu Anfang: Es gibt zwei Flaschen und nicht mehr, denn Decambrais hat da so eine Neigung, also bremse ich. Wer eine Zugabe will, geht ins Viking. Frühstück von sieben bis acht, das ist allen recht, außer dem Schmied, der spät aufsteht, jeder, wie er will. So, ich hab dir jetzt alles gesagt, also steh mir nicht im Weg rum, ich mach dir einen Ring zurecht. Ich habe einen mit einem Küken und einen mit einem Schiff. Welcher ist dir lieber?«
    »Was für ein Ring?« hatte Joss gefragt.
    »Um deine Serviette zusammenzurollen. Gewaschen wird übrigens jede Woche, freitags

Weitere Kostenlose Bücher