Fliehe weit und schnell
Familienanekdote ein Lächeln und schöpfte daraus einen gewissen Stolz. Er half Lizbeth, den Tisch abzuräumen, zum Teil aus Gewohnheit, zum Teil, um in ihrer Nähe zu sein. Er wollte gerade ins Viking gehen, als er sie aus ihrem Zimmer herunterkommen sah: in Abendgarderobe, einem glänzenden schwarzen Kleid, das sich ihrer breiten Gestalt anschmiegte. Sie eilte vorbei, schenkte ihm im Vorbeigehen ein Lächeln, und Joss versetzte es einen Schlag in die Magengrube.
Decambrais hatte sich im überheizten und verrauchten Viking an den hintersten Tisch gesetzt und erwartete ihn sorgenvoll vor zwei Calvados.
»Lizbeth hat in Abendgarderobe das Haus verlassen, kaum war das Geschirr gespült«, verkündete Joss und setzte sich.
»Ja«, erwiderte Decambrais, nicht weiter verwundert.
»Ist sie eingeladen?«
»Lizbeth verläßt das Haus jeden Abend in Abendgarderobe, außer dienstags und sonntags.«
»Trifft sie sich mit jemandem?« fragte Joss beunruhigt.
Decambrais schüttelte den Kopf.
»Sie singt.«
Joss runzelte die Augenbrauen.
»Sie singt«, wiederholte Decambrais, »sie tritt auf. In einem Cabaret. Lizbeth hat eine Stimme, daß einem der Atem stockt.«
»Seit wann, verdammt?«
»Seitdem sie hier angekommen ist und ich sie die Grundbegriffe der Musik gelehrt habe. Sie sorgt jeden Abend im Saint-Ambroise für ein volles Haus. Eines Tages werden Sie ihren Namen groß auf den Plakaten sehen, Le Guern. Lizbeth Glaston. Wo immer Sie dann sein mögen, vergessen Sie es nicht.«
»Es sollte mich wundern, wenn ich das vergessen würde, Decambrais. Kann man da hin, in dieses Cabaret? Kann man sie hören?«
»Damas ist jeden Abend da.«
»Damas? Damas Viguier?«
»Wer sonst? Hat er Ihnen nichts gesagt?«
»Wir trinken jeden Morgen zusammen Kaffee, und er hat mir nie ein Wort davon erzählt.«
»Das ist nur recht und billig, er ist verliebt. So was teilt man nicht.«
»Verdammt, Damas. Aber Damas ist dreißig.«
»Lizbeth auch. Nur weil Lizbeth dick ist, muß sie ja nicht älter sein als dreißig.«
Joss verlor sich in Gedanken über eine mögliche Verbindung zwischen Lizbeth und Damas.
»Kann das funktionieren?« fragte er. »Sie kennen sich doch in Lebensfragen aus?«
Decambrais verzog skeptisch das Gesicht.
»Die männliche Physiologie vermag Lizbeth schon lange nicht mehr zu beeindrucken.«
»Damas ist nett.«
»Das reicht nicht aus.«
»Was erwartet Lizbeth von den Männern?«
»Nicht viel.«
Decambrais trank einen Schluck Calvados.
»Wir sind nicht hier, um von Liebe zu reden, Le Guern.«
»Ich weiß. Der dicke Fang, den Sie angerissen haben.«
Decambrais' Gesicht verdüsterte sich.
»Ist es so schlimm?« fragte Joss.
»Es macht mir Angst.«
Decambrais ließ den Blick über die benachbarten Tische schweifen und schien von dem im Viking herrschenden Lärm, der lauter war als ein Stamm Barbaren an Bord eines Drachenboots, beruhigt.
»Ich habe einen der Autoren identifiziert«, sagte er. »Es handelt sich um einen persischen Arzt des 11. Jahrhunderts, Avicenna.«
»Gut«, bemerkte Joss, den die Angelegenheiten von Avicenna erheblich weniger interessierten als die von Lizbeth.
»Ich habe die Passage in seinem Canon medicinae gefunden.«
»Gut«, wiederholte Joss. »Sagen Sie, Decambrais, waren Sie auch Lehrer, wie Ihr Vater?«
»Woher wissen Sie das?«
»Einfach so«, erwiderte Joss und schnippte mit den Fingern. »Auch ich kenne mich mit Lebensfragen aus.«
»Vielleicht nervt es Sie ja, was ich Ihnen erzähle, Le Guern, aber Sie wären gut beraten zuzuhören.«
»Gut«, wiederholte Joss, der sich plötzlich in die Zeit im Internat zurückversetzt fühlte, in der er beim alten Ducouèdic im Unterricht gesessen hatte.
»Die späteren Autoren haben kaum etwas anderes gemacht, als Avicenna zu kopieren. Es geht immer um dasselbe Thema. Man umkreist es, ohne es beim Namen zu nennen, ohne daran zu rühren, so wie Geier sich kreisförmig dem Aas nähern.«
»Umkreist was?« fragte Joss, der allmählich den Boden unter den Füßen verlor.
»Das Thema, Le Guern, ich habe es Ihnen gerade gesagt. Das, worum es bei allen ›Speziellen‹ geht. Das, was sie ankündigen.«
»Was kündigen sie denn an?«
In diesem Moment stellte Bertin zwei Calvados auf den Tisch, und Decambrais wartete, bis der große Normanne sich entfernt hatte, bevor er fortfuhr.
»Die Pest«, sagte er leise.
»Welche Pest?«
»DIE Pest.«
»Die große Krankheit von früher?«
»Sie selbst. Höchstpersönlich.«
Joss
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