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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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schwieg einen Moment. War es möglich, daß der Gelehrte einfach Unfug erzählte? War es möglich, daß er sich über ihn lustig machte? Joss war nicht in der Lage, all diese Medicinae-Geschichten zu überprüfen, und Decambrais konnte ihn nach Lust und Laune an der Nase herumführen. Als vorsichtiger Seemann betrachtete er prüfend das Gesicht des alten Gelehrten, der ganz entschieden nicht danach aussah, als sei er zu Scherzen aufgelegt.
    »Versuchen Sie auch nicht, mich reinzulegen, Decambrais?«
    »Wozu?«
    »Um das Spiel von dem Typen, der alles weiß, und dem Typen, der gar nichts weiß, zu spielen. Das Spiel vom Schlaukopf und dem Idioten, dem Gebildeten und dem Ungebildeten, dem Großen und dem Kleinen. Bei dem Spiel könnte ich Sie nämlich auch auf hohe See mitnehmen, und zwar ohne Rettungsweste.«
    »Le Guern, Sie sind ein aufbrausender Mann.«
    »Ja«, gab Joss zu.
    »Ich vermute, Sie haben schon einer ganzen Reihe von Menschen auf dieser Erde die Fresse poliert.«
    »Und auf See.«
    »Ich habe noch nie das Spiel vom Schlaukopf und dem Idioten gespielt. Was bringt das?«
    »Macht.«
    Decambrais lächelte und zuckte mit den Schultern.
    »Können wir weitermachen?« fragte er.
    »Wenn Sie wollen. Aber was geht mich das eigentlich an? Drei Monate lang habe ich was von einem Typen vorgelesen, der die Bibel abgeschrieben hat. Das war bezahlt, ich hab gelesen. Was hab ich damit zu tun?«
    »Diese Anzeigen werden, moralisch betrachtet, Ihnen zugeschrieben. Wenn ich morgen zu den Bullen gehe, ist mir lieber, Sie wissen Bescheid. Und mir ist lieber, Sie begleiten mich.«
    Joss leerte seinen Calvados in einem Zug.
    »Die Bullen? Sie drehen durch, Decambrais! Was haben die Bullen bei der Sache verloren? Es herrscht schließlich nicht Großalarm.«
    »Was wissen Sie denn?«
    Des Zimmers wegen hielt Joss die Worte zurück, die ihm auf der Zunge lagen. Er mußte das Zimmer behalten.
    »Jetzt hören Sie mir mal gut zu, Decambrais«, sagte er beherrscht, »wir haben da einen Kerl, der sich Ihrer Meinung nach damit vergnügt, alte Texte über die Pest abzuschreiben. Ein Verrückter halt, ein Spinner. Wenn man jedesmal mit den Bullen reden wollte, wenn ein Irrer den Mund aufmacht, hätten wir keine Zeit mehr zum Trinken.«
    »Erstens«, erwiderte Decambrais und leerte die Hälfte seines Calvados, »beschränkt er sich nicht darauf, abzuschreiben, er gibt sie Ihnen zum Ausrufen. Er äußert sich anonym in der Öffentlichkeit. Zweitens rückt er näher. Er ist erst am Anfang der Texte. Er ist noch nicht bei den Passagen, die das Wort ›Pest‹ oder ›großes Übel‹ oder ›Seuche‹ enthalten. Er bewegt sich noch im Vorfeld, aber er rückt näher. Verstehen Sie, Le Guern? Er rückt näher. Das ist das Bedrohliche. Er rückt näher. Aber wohin rückt er vor?«
    »Na, er rückt zum Ende des Textes vor. Das ist doch logisch. Es hat doch noch nie jemanden gegeben, der ein Buch beim Ende angefangen hat.«
    »Mehrere Bücher. Und wissen Sie, was da am Ende steht?«
    »Ich hab die verdammten Bücher doch nicht gelesen!«
    »Dutzende von Millionen Toten. Das steht am Ende.«
    »Glauben Sie etwa, dieser Irre wird halb Frankreich umbringen?«
    »Das habe ich nicht gesagt. Ich sage, daß er sich einer tödlichen Konsequenz nähert, ich sage, er schleicht sich an. Das ist nicht so, als würde er uns Tausendundeine Nacht vorlesen.«
    »Daß er sich nähert, sagen Sie. Ich finde, er tritt eher auf der Stelle. Jetzt geht er uns schon einen ganzen Monat mit seinen Geschichten von Viechern auf den Wecker, mal in dieser, mal in einer anderen Form. Wenn Sie so was ›sich nähern‹ nennen.«
    »Ich bin mir sicher. Erinnern Sie sich an die anderen Anzeigen, diese Auszüge aus einer Lebensgeschichte ohne Hand und Fuß?«
    »Eben. Das hat überhaupt nichts miteinander zu tun. Das ist ein Kerl, der ißt, der vögelt, der schläft, und das ist alles, was er zu sagen hat.«
    »Der Kerl heißt Samuel Pepys.«
    »Kenn ich nicht.«
    »Dann stelle ich ihn Ihnen vor: ein Engländer, ein Edelmann, der im 17. Jahrhundert in London lebte. Er arbeitete übrigens, das nur nebenbei gesagt, in der Marineverwaltung.«
    »Ein großes Tier im Hafenamt?«
    »Nicht ganz, aber egal. Worauf es ankommt, ist, daß Pepys neun Jahre lang, von 1660 bis 1669, ein Tagebuch führte. Das Jahr, das unser Irrer in Ihre Urne gesteckt hat, ist das Jahr der großen Pest in London, 1665, siebzigtausend Leichen. Verstehen Sie? Tag für Tag nähern sich die ›Speziellen‹ dem

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