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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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weiß, dienstags bunt. Wenn du nicht willst, daß deine Wäsche mit der des Schmieds zusammenkommt, gibt's den Waschsalon zweihundert Meter weiter. Wenn du sie gebügelt haben willst, mußt du zusätzlich Marie-Belle bezahlen, die zum Fensterputzen kommt. Für welchen Ring entscheidest du dich?«
    »Das Küken«, hatte Joss entschlossen geantwortet.
    »Männer«, hatte Lizbeth im Hinausgehen geseufzt. »Die müssen immer dicketun.«
     
    Suppe, Kalbsragout, Käse und Birnenkompott. Castillon redete ein bißchen vor sich hin, und Joss versuchte, sich vorsichtig mit allem vertraut zu machen, so wie man an ein unbekanntes Meer herangeht. Die kleine Eva aß lautlos und hob nur ein einziges Mal den Kopf, um Lizbeth um Brot zu bitten. Lizbeth lächelte sie an, und Joss hatte den eigenartigen Eindruck, daß Eva das Bedürfnis verspürte, sich in Lizbeths Arme zu stürzen. Es sei denn, daß wieder er selbst es war, der dieses Bedürfnis verspürte.
    Decambrais hatte das ganze Abendessen über praktisch nichts gesagt. Lizbeth hatte Joss, der ihr beim Abräumen half, zugeflüstert: »Wenn er so ist, dann arbeitet er beim Essen.« Und tatsächlich war er vom Tisch aufgestanden, kaum daß er mit den Birnen fertig war, hatte sich bei allen entschuldigt und war wieder in sein Arbeitszimmer gegangen.
    Die Erleuchtung kam am Morgen, im ersten wachen Augenblick. Der Name drang ihm über die Lippen, noch bevor er die Augen geöffnet hatte, so als hätte das Wort die ganze Nacht auf das Erwachen des Schlafenden gewartet, voller Ungeduld, sich zu zeigen. Decambrais hörte sich leise sagen: »Avicenna.«
    Er erhob sich, während er den Namen mehrfach wiederholte, aus Angst, dieser würde sich zusammen mit den Nebeln des Schlafs auflösen. Um sicher zu sein, notierte er ihn auf einem Blatt. Avicenna. Dann schrieb er daneben: Canon medicinae. Der Kanon der Medizin.
    Avicenna. Der große Avicenna, der persische Arzt und Philosoph vom Anfang des 11. Jahrhunderts, tausendmal kopiert vom Orient bis zum Okzident. Lateinischer Text, durchsetzt mit arabischen Ausdrücken. Jetzt hatte er die Spur.
    Lächelnd wartete Decambrais darauf, daß ihm der Bretone auf der Treppe begegnen würde. Er fing ihn im Vorübergehen ab.
    »Gut geschlafen, Le Guern?«
    Joss begriff sofort, daß etwas geschehen war. Das schmale weiße Gesicht von Decambrais, normalerweise eher leichenblaß, hatte sich wie durch die Wirkung von ein wenig Sonne belebt. An die Stelle jenes halb zynischen, halb angeberischen Lächelns, das er im allgemeinen zur Schau trug, war schlichter Jubel getreten.
    »Ich habe ihn, Le Guern, ich habe ihn.«
    »Wen?«
    »Unseren Oberlehrer! Ich habe ihn, verdammt. Heben Sie mir die ›Speziellen‹ des Tages auf, ich eile in die Bibliothek.«
    »Unten, in Ihrem Arbeitszimmer?«
    »Nein, Le Guern. Ich besitze ja nicht alle Bücher.«
    »Ach so?« sagte Joss überrascht.
     
    Den Mantel über die Schulter geworfen und die Aktentasche zwischen die Füße geklemmt, notierte Decambrais die ›Spezielle‹ vom Morgen:
     
    Wenn die Jahreszeiten durcheinander geraten sind, wenn der Winter warm ist, statt kalt zu sein; der Sommer kühl statt warm, und ebenso der Frühling und der Herbst, denn diese große Ungleichheit zeigt eine schlechte Verfassung sowohl der Gestirne als auch der Luft (...).
     
    Er schob das Blatt in seine Aktentasche, dann wartete er ein paar Minuten, um den Schiffbruch des Tages zu hören. Um fünf vor neun stürzte er in die Metro.
     

10
     
    An diesem Donnerstag morgen kam Adamsberg später als Danglard zur Brigade, was so selten vorkam, daß sein Stellvertreter ihm einen langen Blick zuwarf. Der Kommissar hatte die verknitterten Züge eines Mannes, der nur zwischen fünf und acht ein paar Stunden geschlafen hat. Er ging sofort wieder, um in der Bar nebenan einen Kaffee zu trinken.
    Camille, folgerte Danglard. Camille war gestern abend zurückgekommen. Träge schaltete Danglard seinen PC ein. Er hatte wie gewöhnlich allein geschlafen. Häßlich, wie er war, mit einem Gesicht ohne Struktur und einem Körper, der nach unten floß wie eine schmelzende Kerze, war es schon das Höchste, wenn er alle zwei Jahre mal mit einer Frau schlief. Wie immer befreite sich Danglard von dieser Verdrossenheit, die ihn auf geradem Wege zu einem Sechserpack Bier führte, indem er sich in einer kurzen, strahlenden Tonbildschau die Bilder seiner fünf Kinder vor Augen rief. Das fünfte mit den hellblauen Augen war übrigens nicht von ihm, aber als seine

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