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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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sich mit verschränkten Armen an die Fassade.
    »Und nun?« fragte Joss. »Geben wir auf?«
    »Wir sind in sechs Minuten verabredet. Man sollte nie zu früh und nie zu spät kommen. Er ist bestimmt ein beschäftigter Mann.«
    Joss lehnte sich neben ihm an die Mauer und wartete.
    Ein Mann ging an ihnen vorüber, mit gesenktem Blick, die Hände in den Taschen, und verschwand ohne Eile durch das Tor, ohne die beiden an der Wand lehnenden Männer anzusehen.
    »Ich glaube, das war er«, murmelte Decambrais.
    »Der kleine Braunhaarige? Sie machen Witze. Altes graues Hemd, völlig zerknautschte Jacke und nicht mal ordentlich geschnittenes Haar. Blumenverkäufer auf den Kais von Narbonne, vielleicht, aber Kommissar, nein, wirklich.«
    »Ich sag Ihnen, das war er«, wiederholte Decambrais beharrlich. »Ich erkenne seinen Gang wieder. Er schlingert.«
    Decambrais sah auf die Uhr, bis die sechs Minuten abgelaufen waren, und führte Joss in das Gebäude, in dem gerade Bauarbeiten durchgeführt wurden.
     
    »Ich kann mich an Sie erinnern, Ducouèdic«, sagte Adamsberg, als er die beiden Besucher in sein Büro bat. »Das heißt, nein, ich habe mir nach Ihrem Anruf noch mal Ihre Akte angesehen, und daraufhin habe ich mich wieder an Sie erinnert. Wir hatten uns ein bißchen unterhalten, es ging Ihnen damals nicht sehr gut. Ich glaube, ich hatte Ihnen geraten, den Beruf aufzugeben.«
    »Das habe ich getan«, erwiderte Decambrais lauter, um den Lärm der Bohrhämmer zu übertönen, den Adamsberg nicht wahrzunehmen schien.
    »Haben Sie etwas gefunden, als Sie aus dem Gefängnis kamen?«
    »Ich habe mich als Berater niedergelassen«, erklärte Decambrais und überging die untervermieteten Zimmer ebenso wie die Spitzenklöppelei.
    »Steuern?«
    »Lebensfragen.«
    »Ach ja«, bemerkte Adamsberg versonnen. »Warum nicht. Haben Sie Kundschaft?«
    »Ich kann mich nicht beklagen.«
    »Was erzählen Ihnen die Leute?«
    Joss fragte sich allmählich, ob Decambrais sich nicht in der Adresse getäuscht hatte und ob dieser Bulle von Zeit zu Zeit auch mal arbeitete. Auf seinem Schreibtisch stand kein Computer, dafür lagen haufenweise Blätter im Raum, auf den Stühlen ebenso wie auf dem Boden, die mit Notizen und Zeichnungen bedeckt waren. Der Kommissar war stehen geblieben, an die weiße Wand gelehnt, die Arme in die Seiten gestützt, und sah Decambrais mit geneigtem Kopf leicht schräg von unten an. Joss fand, daß seine Augen die Farbe und Konsistenz jener braunen, glitschigen Algen hatten, die sich um die Schiffsschrauben wickeln - Blasentang, ebenso sanft, aber ebenso unbestimmbar, ebenso glänzend, aber ohne Funkeln, ohne Klarheit. Die runden Blasen dieser Algen hießen Schwimmkörper, und Joss dachte, daß die Augen des Kommissars genauso wirkten. Diese Schwimmkörper waren unter dichten, wirren Brauen versunken, die wie zwei kleine Felsvorsprünge aussahen. Die Hakennase und die kantigen Züge brachten ein wenig Entschlossenheit in das Ganze.
    »Aber die Leute kommen vor allem wegen Liebesgeschichten«, fuhr Decambrais fort. »Entweder haben sie zuviel Liebe oder nicht genug oder gar keine mehr oder nicht die, die sie wollen, oder sie kriegen sie nicht mehr in den Griff, wegen all dieser möglichen...«
    »Folgen«, ergänzte Adamsberg.
    »Folgen«, bestätigte Decambrais.
    »Sehen Sie, Ducouèdic«, sagte Adamsberg, wobei er sich von der Wand löste und mit gemessenen Schritten im Zimmer auf und ab ging, »das hier ist eine spezielle Brigade, eine Brigade für Kapitalverbrechen. Wenn Ihre alte Geschichte Konsequenzen hatte, wenn man Sie auf irgendeine Weise einschüchtert, dann...«
    »Nein«, unterbrach Decambrais. »Es geht nicht um mich. Aber es handelt sich auch nicht um ein Verbrechen. Zumindest noch nicht.«
    »Drohungen?«
    »Vielleicht. Anonyme Anzeigen, Todesankündigungen.«
    Joss stützte sich amüsiert mit den Ellbogen auf die Oberschenkel. So leicht würde der Gelehrte mit seiner nebulösen Beunruhigung da nicht rauskommen.
    »Zielen sie auf eine bestimmte Person ab?« fragte Adamsberg.
    »Nein. Ankündigungen allgemeiner Zerstörung, einer Katastrophe.«
    »Aha«, bemerkte Adamsberg und ging weiter auf und ab. »Ein Prediger des dritten Jahrtausends? Was verkündet er? Die Apokalypse?«
    »Die Pest.«
    »Sieh an«, sagte Adamsberg und hielt inne. »Das ist mal was anderes. Wie verkündet er sie Ihnen? Mit der Post? Per Telefon?«
    »Durch diesen Herrn hier«, erklärte Decambrais und deutete mit förmlicher Geste auf Joss.

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