Fliehe weit und schnell
Ausbruch der Pest. Wir sind jetzt ganz nahe. Das nenne ich sich nähern.«
Zum erstenmal fühlte Joss sich verunsichert. Es klang logisch, was der Gelehrte erzählte. Aber ob man deswegen gleich die Bullen benachrichtigen mußte?
»Die Bullen werden sich krumm und schief lachen, wenn wir ankommen und sagen, daß sich ein Irrer damit vergnügt, uns ein dreihundert Jahre altes Tagebuch vorzulesen. Uns werden sie einsperren, das ist sicher.«
»Das werden wir ihnen auch nicht sagen. Wir werden sie einfach darüber informieren, daß sich ein Irrer damit vergnügt, in der Öffentlichkeit den Tod anzukündigen. Daraufhin werden sie sich tummeln. Dann habe ich ein ruhiges Gewissen.«
»Trotzdem werden sie sich krumm und schief lachen.«
»Natürlich. Deswegen gehen wir auch nicht zu irgendeinem x-beliebigen Bullen. Ich kenne einen, der lacht sich anders krumm und schief als die übrigen, und auch nicht aus denselben Anlässen. Zu dem werden wir gehen.«
»Zu dem werden Sie gehen, wenn's recht ist. Es würde mich wundern, wenn die meine Aussage aufnehmen würden wie geweihtes Brot. Mein Strafregister ist nämlich nicht ganz leer, Decambrais.«
»Meins auch nicht.«
Joss sah Decambrais an, ohne etwas zu sagen. Also so was, Hut ab. Hut ab vor dem Vornehmen. Der alte Gelehrte entpuppte sich nicht nur mir nichts, dir nichts als Bretone von den Cotes-du-Nord, er hatte auch mir nichts, dir nichts ein Strafregister. Deswegen bestimmt auch der falsche Name.
»Wie viele Monate?« fragte Joss schlicht und ließ als wahrer Gentleman des Meeres die Frage nach dem Motiv beiseite.
»Sechs«, erwiderte Decambrais.
»Neun«, antwortete Joss.
»Abgesessen?«
»Abgesessen.«
»Ebenso.«
Gleichstand. Nach diesem Austausch wahrten die beiden Männer ein fast würdevolles Schweigen.
»Sehr gut«, sagte Decambrais. »Begleiten Sie mich?«
Wenig überzeugt verzog Joss das Gesicht.
»Es sind nur Worte. Nur Worte. Die haben noch keinen umgebracht. Das wäre bekannt.«
»Aber das ist bekannt, Le Guern. Ganz im Gegenteil, Worte haben schon immer umgebracht.«
»Seit wann das?«
»Seitdem der erste gerufen hat ›Hängt ihn auf!‹ und die Menge ihn aufgehängt hat. Seit eh und je.«
»Sehr gut«, sagte Joss überzeugt. »Aber wenn man mir meine Arbeit wegnimmt?«
»Hören Sie mal, Le Guern, haben Sie Schiß vor den Bullen?«
Empört sprang Joss auf.
»Aber nein, Decambrais, die Le Guerns sind vielleicht eine rauhe Sippe, aber die Bullen haben uns noch nie Angst eingejagt.«
»Na also.«
12
»Zu was für einem Bullen gehen wir?« fragte Joss, als sie gegen zehn Uhr morgens den Boulevard Arago hinaufgingen.
»Einem Mann, dem ich zweimal begegnet bin in Zusammenhang mit diesem, mit meinem...«
»Strafregister«, ergänzte Joss.
»Ganz richtig.«
»Zweimal reicht nicht aus, um einen Menschen wirklich von allen Seiten kennenzulernen.«
»Es ermöglicht aber, ihn zu überfliegen, und die Luftaufnahme war gut. Anfangs hatte ich ihn für einen der Angeklagten gehalten, das ist ein ziemlich gutes Zeichen. Er wird uns schon fünf Minuten einräumen. Im schlimmsten Fall wird er unseren Besuch in der Kladde vermerken und ihn vergessen. Im besten Fall wird es ihn so interessieren, daß er sich nach ein paar Details erkundigt.«
»Diesbezüglichen Details.«
»Diesbezüglichen Details.«
»Warum sollte ihn das interessieren?«
»Er mag verworrene oder uninteressante Geschichten. Zumindest hat ihm ein Vorgesetzter genau das vorgeworfen, als ich ihm das erste Mal begegnet bin.«
»Besuchen wir etwa einen Laufburschen am Fuß der Leiter?«
»Würde Sie das stören, Kapitän?«
»Ich hab's Ihnen gesagt, Decambrais. Mir ist die Geschichte egal.«
»Er ist kein Laufbursche. Er ist inzwischen Hauptkommissar und leitet eine Brigade der Kriminalpolizei. Abteilung Kapitalverbrechen.«
»Kapitalverbrechen? Na, da wird er mit unseren alten Texten ja zufrieden sein.«
»Wer weiß?«
»Aus welchem Grund sollte so ein Verworrener Hauptkommissar geworden sein?«
»Soweit ich erfahren habe, ist er genial, was verworrene Angelegenheiten angeht. Ich sage ›verworrene‹, aber man könnte auch ›unaussprechliche‹ sagen.«
»Wir werden uns nicht um Worte streiten.«
»Ich streite gern.«
»Das ist mir schon aufgefallen.«
Decambrais blieb vor einer hohen Toreinfahrt stehen.
»Da sind wir«, sagte er.
Joss ließ den Blick über die Fassade gleiten.
»Der alte Kahn müßte mal ordentlich ins Trockendock.«
Decambrais lehnte
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