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Fliehe weit und schnell

Fliehe weit und schnell

Titel: Fliehe weit und schnell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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»Monsieur Le Guern ist Ausrufer von Beruf wie schon sein Ururgroßvater. Er ruft die Nachrichten des Viertels an der Kreuzung Edgar-Quinet-Delambre aus. Er erklärt es Ihnen besser selbst.«
    Mit müdem Gesicht wandte Adamsberg sich Joss zu.
    »Um es kurz zu machen: Die Leute, die etwas zu sagen haben, hinterlassen bei mir Nachrichten, und die lese ich dann vor«, sagte Joss. »Das ist kein Hexenwerk. Dazu braucht man eine gute Stimme und muß pünktlich sein.«
    »Und?« fragte Adamsberg.
    »Jeden Tag, inzwischen schon zwei- oder dreimal täglich, findet Monsieur Le Guern diese kleinen Texte, die die Pest ankündigen«, fuhr Decambrais fort. »Jede Ankündigung bringt uns ihrem Ausbruch näher.«
    »Gut«, bemerkte Adamsberg, zog die Kladde zu sich heran und gab ihnen durch diese Bewegung lakonisch zu verstehen, daß die Diskussion sich ihrem Ende zuneigte. »Seit wann?«
    »Seit dem 17. August«, erklärte Joss.
    Adamsberg hielt in der Bewegung inne und warf dem Bretonen einen raschen Blick zu.
    »Sind Sie sicher?« fragte er.
    Und Joss sah, daß er sich getäuscht hatte. Nicht im Datum der ersten ›Speziellen‹, nein, in den Augen des Kommissars. Im Wasser dieses Algenblicks war gerade ein helles Licht angegangen, wie ein winziges Feuer, das die dicke Schale des Schwimmkörpers durchbrach. Es leuchtete auf und verlosch wieder, wie ein Leuchtturm.
    »Am 17. August morgens«, wiederholte Joss. »Gleich nach der Zeit im Trockendock.«
    Adamsberg nahm die Hand von der Kladde und ging erneut auf und ab. Am 17. August hatte es das erste mit Vieren markierte Gebäude in Paris gegeben, in der Rue de Chaillot. Zumindest das erste gemeldete Gebäude. Das zweite Gebäude zwei Tage später in Montmartre.
    »Und die nächste Nachricht?« fragte Adamsberg.
    »Zwei Tage später, am 19.«, antwortete Joss. »Danach am 22. Dann wurden die Abstände geringer. Ab dem 24. fast täglich und seit kurzem mehrmals täglich.«
    »Kann ich sie sehen?«
    Decambrais hielt ihm die letzten der aufbewahrten Blätter hin, und Adamsberg überflog sie rasch.
    »Ich weiß nicht, weshalb Sie dabei an die Pest denken müssen.«
    »Ich habe die Auszüge identifiziert«, erklärte Decambrais. »Es sind Zitate aus alten Pest-Abhandlungen, wie es im Laufe der Jahrhunderte unzählige gegeben hat. Der Bote ist noch bei den Vorzeichen. Bald wird er zum Kern der Sache kommen. Wir sind ganz nahe dran. In der letzten Passage hier, der von heute morgen«, sagte Decambrais und deutete auf eines der Blätter, »bricht der Text kurz vor dem Wort ›Pest‹ ab.«
    Adamsberg las die Anzeige des Tages:
     
    (...) wenn viele sich bewegen wie Schatten auf einer Wand, wenn man sieht, wie düstere Dämpfe wie Nebel aus dem Boden steigen, (...) wenn man bei den Menschen einen großen Mangel an Vertrauen bemerkt, Eifersucht, Haß und Ausschweifungen erlebt (...)
     
    »Offen gestanden glaube ich, daß wir morgen soweit sein werden«, bemerkte Decambrais. »Das heißt, für unseren Mann heute nacht. Wegen des Tagebuchs von dem Engländer.«
    »Dieser ungeordneten Lebensbruchstücke hier?«
    »Sie sind geordnet. Sie stammen von 1665, dem Jahr der großen Pest in London. In den nächsten Tagen wird Samuel Pepys seine erste Leiche sehen. Morgen, denke ich. Morgen.«
    Adamsberg schob die Blätter auf dem Tisch von sich und seufzte.
    »Und wir, was werden wir Ihrer Meinung nach sehen?«
    »Keine Ahnung.«
    »Sicherlich nichts«, erwiderte Adamsberg. »Es ist einfach nur unangenehm, nicht wahr?«
    »Ganz richtig.«
    »Aber gespenstisch.«
    »Ich weiß. Die letzte Pest in Frankreich ging 1722 in Marseille zu Ende. Das gehört schon ins Reich der Legenden.«
    Adamsberg fuhr sich mit den Fingern durchs Haar - vielleicht um es zu kämmen, dachte Joss -, sammelte dann die Blätter zusammen und gab sie Decambrais zurück.
    »Danke«, sagte er.
    »Kann ich sie weiter vorlesen?« fragte Joss.
    »Hören Sie keinesfalls damit auf. Und kommen Sie vorbei, um mir zu berichten, wie es weitergeht.«
    »Und wenn es nicht weitergeht?« fragte Joss.
    »Es passiert selten, daß jemand etwas so Aufwendiges und Ungehöriges inszeniert, ohne daß es ein konkretes Ergebnis gibt, wie klein es auch sein mag. Es würde mich interessieren, was sich der Kerl als nächstes ausdenkt.«
     
    Adamsberg begleitete die beiden Männer zum Ausgang und kehrte mit langsamen Schritten wieder in sein Büro zurück. Diese Geschichte war mehr als unangenehm. Sie war abscheulich. Ein Zusammenhang mit den Vieren bestand

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