Fliehe weit und schnell
infizierter Flöhe auf den Menschen übertragen wird.«
Adamsberg hatte sein gänzlich frisches Wissen aus dem Lexikon, das er kurz zuvor konsultiert hatte.
»Als ich die vier Männer mitgenommen habe«, fuhr er fort, »war bereits sicher, daß das Opfer nicht an der Pest gestorben ist.«
»Warum nicht?« fragte die Frau.
Danglard eilte dem Kommissar zu Hilfe.
»Die Ankündigung, die Pest habe die Stadt erreicht, erfolgte am Samstag durch den Ausrufer«, sagte er. »Laurion ist in der Nacht von Montag auf Dienstag gestorben, drei Tage später. Dazu muß man wissen, daß die Zeit zwischen der Infektion mit dem Bazillus und dem Tod durch die Pest fünf Tage beträgt, von seltenen Ausnahmen abgesehen. Es war also ausgeschlossen, daß wir es mit einem wirklichen Pestfall zu tun hatten.«
»Tatsächlich? Er hätte ihn vorher infizieren können.«
»Nein. CLT ist ein Besessener. Und Besessene können nicht schummeln. Wenn er seine Nachricht am Samstag verkündet, dann infiziert er sein Opfer auch am Samstag.«
»Möglich«, sagte die Frau halbwegs besänftigt und setzte sich wieder.
»Der Werkstattinhaber ist erwürgt worden«, fuhr Adamsberg fort. »Danach wurde sein Körper mit Holzkohle geschwärzt, bestimmt, um die Symptome der Pest zu imitieren und damit an diese Krankheit zu erinnern. CLT ist also nicht im Besitz des Bazillus. Er ist kein irrer Laborant, der mit der Spritze in der Tasche herumläuft. Der Mann agiert symbolisch. Aber es ist klar, daß er daran glaubt - und zwar sehr stark. Die Tür des Opfers trug keine Vier. Ich erinnere Sie daran, daß diese Vieren nicht Drohungen sind, sondern ein Schutz. Nur derjenige, dessen Tür unberührt bleibt, ist daher der Gefahr ausgesetzt. CLT wählt sein Opfer im voraus und schützt die anderen Bewohner des Hauses durch diese Zeichnungen. Dieses Bestreben, die anderen zu verschonen, zeigt, daß CLT überzeugt davon ist, eine wirkliche, ansteckende Pest zu verbreiten. Er schlägt also nicht unüberlegt zu: Er tötet einen und versucht die anderen zu beschützen, diejenigen, die die Geißel seiner Ansicht nach nicht verdienen.«
»Er erwürgt jemanden und glaubt dabei, er würde die Pest verbreiten?« fragte der Mann rechts. »Wenn er fähig ist, sich selbst derartig zu täuschen, haben wir es mit einem echten Schizophrenen zu tun, oder?«
»Nicht unbedingt«, erwiderte Adamsberg. »CLT regiert über eine imaginäre Welt, die ihm kohärent erscheint. Das ist gar nicht so selten: Viele Leute glauben, man könne die Zukunft aus Spielkarten oder Kaffeesatz lesen, dort, anderswo, in der Straße gegenüber oder in dieser Brigade. Wo ist da der Unterschied? Unzählige andere Leute hängen sich eine Marienfigur übers Bett und sind überzeugt, daß diese kleine Statue, die von Menschenhand hergestellt und für 69 Francs erworben wurde, sie tatsächlich beschützen wird. Sie reden mit der Statue, sie erzählen ihr Geschichten. Wo ist der Unterschied? Die Grenze zwischen der Idee der Wirklichkeit und der Wirklichkeit, Oberleutnant, ist nur eine Sache des Standpunkts, der Person, der Bildung.«
»Gibt es noch weitere Zielpersonen?« unterbrach der grauhaarige Beamte. »Sind all diejenigen, deren Türen nicht angerührt wurden, demselben Schicksal ausgesetzt wie Laurion?«
»Das ist zu befürchten: Heute abend werden wir vor den vierzehn unberührten Türen der markierten Gebäude Wachen plazieren. Aber nicht alle betroffenen Häuser sind uns bekannt, nur die Fälle, in denen wir Anzeigen aufgenommen haben. Es gibt bestimmt zwanzig weitere in Paris, vielleicht mehr.«
»Warum geben wir keinen Aufruf an die Bevölkerung heraus, um die Leute zu warnen?« fragte eine Frau.
»Das ist die Frage. Ein Aufruf könnte allgemeine Panik auslösen.«
»Man braucht ja nur von den Vieren zu sprechen«, schlug der Grauhaarige vor. »Weitere Informationen müssen ja nicht rausgegeben werden.«
»Es wird sich auf die eine oder andere Weise herumsprechen«, erwiderte Adamsberg. »Und wenn es sich nicht herumspricht, wird CLT es sich zur Aufgabe machen, die Schleusen der Angst zu öffnen. Das war von Anfang an seine Absicht. Er hat sich den Ausrufer ausgesucht, weil er sich gar nichts Besseres hätte wünschen können. Wenn seine geschraubten Botschaften an Zeitungen gegangen wären, wären sie sofort im Papierkorb gelandet. Er hat also bescheiden angefangen. Wenn man heute abend in den Medien von ihm spricht, eröffnet man ihm eine großartige Möglichkeit. Aber es ist so oder so nur
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