Fliehe weit und schnell
alle Altersklassen, beide Geschlechter, alle Berufe und sozialen Kategorien. Nach elf Uhr kam Danglard, um Adamsberg darüber zu informieren, daß in allen betroffenen Gebäuden vor jeder unmarkierten Wohnungstür zwei Polizisten Wache stünden.
Adamsberg entließ die Beamten, die länger geblieben waren, stellte eine Nachtmannschaft zusammen und nahm einen Dienstwagen, um einen Umweg über die Place Edgar-Quinet zu machen. Zwei Leute hatten das vorherige Tandem abgelöst, der kahlköpfige Mann und die wuchtige Frau, die ihn bei der Sitzung angegriffen hatte. Er entdeckte sie auf einer Bank, auf der sie sich zu unterhalten schienen, während sie die Urne in fünfzehn Meter Entfernung nicht aus den Augen ließen. Er ging hin und grüßte unauffällig.
»Konzentrieren Sie sich auf das Format des Umschlags«, sagte er. »Mit etwas Glück und unter der Laterne ist er vielleicht zu sehen.«
»Sollen wir niemanden überprüfen?« fragte die Frau.
»Begnügen Sie sich mit Beobachten. Wenn ein Typ Ihren Verdacht erregt, folgen Sie ihm unauffällig. Zwei Fotografen sind im Treppenhaus dieses Hauses dort stationiert. Sie werden jeden fotografieren, der sich der Urne nähert.«
»Wann werden wir abgelöst?« fragte die Frau gähnend.
»Um drei Uhr morgens.«
Adamsberg betrat das Viking und entdeckte Decambrais, der mit dem Ausrufer und fünf weiteren Personen ganz hinten an seinem Tisch saß. Adamsbergs Ankunft ließ die Gespräche ersterben, wie ein Orchester, das abbricht. Er begriff, daß alle an diesem Tisch wußten, daß er Bulle war. Decambrais entschied sich für eine direkte Eröffnung.
»Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg«, sagte er. »Kommissar, ich möchte Ihnen Lizbeth Glaston vorstellen, Sängerin, Damas Viguier vom Roll-Rider, seine Schwester Marie-Belle, Castillon, pensionierter Schmied, und Eva, unsere Madonna. Joss Le Guern kennen Sie bereits. Trinken Sie einen Calvados mit uns?«
Adamsberg lehnte ab.
»Kann ich kurz mit Ihnen sprechen, Decambrais?«
Lizbeth zupfte den Kommissar ungezwungen am Ärmel. Adamsberg erkannte jene besondere, verständnisinnige Unbekümmertheit, als hätten sie gemeinsam die Kommissariatsbänke gedrückt, jene gleichgültige Ungezwungenheit, die Prostituierte, von zahllosen Razzien abgehärtet, gegenüber Bullen an den Tag legten.
»Erzählen Sie mal, Kommissar«, sagte sie und musterte Adamsbergs Kleidung. »Tarnen Sie sich heute abend? Ist das Ihre Verkleidung für die Nacht?«
»Nein, das trage ich immer.«
»Sie verausgaben sich ja nicht gerade. Scheint leger zuzugehen bei der Polizei.«
»Die Kleidung macht noch nicht den Menschen, Lizbeth«, gab Decambrais zu bedenken.
»Manchmal schon«, erwiderte Lizbeth. »Dieser Mann schert sich nicht um seine Wirkung, ein Kerl, der keinen Eindruck schinden will. Stimmt's Kommissar?«
»Eindruck schinden bei wem?«
»Bei den Frauen«, schlug Damas lächelnd vor. »Schließlich muß man die Frauen doch beeindrucken können.«
»Du bist nicht gerade ein Schlauberger, Damas«, sagte Lizbeth und drehte sich zu ihm herum, worauf der junge Mann bis an die Haarwurzeln errötete. »Die Frauen geben nichts drum, beeindruckt zu werden.«
»Ach so«, sagte Damas stirnrunzelnd. »Und worum geben sie was, Lizbeth?«
»Um nichts«, antwortete Lizbeth und schlug mit ihrer dicken schwarzen Hand auf den Tisch. »Sie geben um nichts mehr etwas. Nicht wahr, Eva? Weder um Liebe noch um Zärtlichkeit, vielleicht noch um eine Stiege grüne Bohnen. Da siehst du's. Überleg mal ein bißchen.«
Eva antwortete nicht, und Damas drehte mit düsterem Gesicht sein Glas in den Händen.
»Du bist nicht gerecht«, sagte Marie-Belle mit zitternder Stimme. »Um die Liebe geben logischerweise alle etwas. Was noch?«
»Grüne Bohnen, ich hab's dir gerade gesagt.«
»Du redest Unsinn, Lizbeth«, sagte Marie-Belle und verschränkte, den Tränen nahe, die Arme. »Nur weil du Erfahrung hast, darfst du doch die anderen nicht entmutigen.«
»Probier's aus, Kindchen«, erwiderte Lizbeth. »Ich hindere dich nicht daran.«
Plötzlich begann Lizbeth zu lachen, küßte Damas auf die Stirn und strich Marie-Belle über den Kopf.
»Lächle, Kindchen«, sagte sie. »Und glaub nicht alles, was die dicke Lizbeth sagt. Die dicke Lizbeth ist verbittert. Die dicke Lizbeth nervt alle mit ihrer Regimentserfahrung. Du tust gut daran, dich zu verteidigen. Das ist gut. Aber probier nicht allzuviel aus, wenn du den Rat einer Professionellen willst.«
Adamsberg zog Decambrais
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