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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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fassen. Über Monate schrieb ich kaum.
    Das konnte ich mir heute nicht mehr leisten. Ich war Geschäftsfrau und lebte davon, dass ich etwas Vernünftiges zu Papier brachte.
    Tabletten, Wunderpillen. Chemische gute Laune. Ein Zustand, den ich noch mehr fürchtete als den Tod.
    Mühsam rappelte ich mich auf, taumelte zum Spülbecken und goss mir Wasser in ein Glas. Typischerweise löschte es meinen Durst nicht. Der saß tiefer, brannte wie Säure. Zum Weinen war mein Körper zu trocken. Mein Stoffwechsel beschleunigte, und ich stürzte zur Toilette. Larissas Anblick hatte die Erinnerung an mein eigenes Elend wieder aufblitzen lassen. Es gab die Theorie, dass traumatische Erlebnisse im Gehirn winzige Läsionen hinterließen. Diese Verletzungen sorgten dafür, dass Menschen in bestimmten, einer früheren Schocksituation ähnlichen Lagen mit demselben destruktiven Denkmuster reagierten. Insofern war meine plötzliche Panik erklärbar. Doch was waren schon Erklärungen!
    Ich besah mein Gesicht im Spiegel. Spaltete einen Teil meiner Persönlichkeit ab, wie ein Mechaniker, der einen Hebel umlegte. Betrachtete mich und dachte nach über mich, rational, wie es meine Stärke war, wenn ich gerade nicht durchzuknallen drohte. Aber in mir steckte auch diese andere Kea, die kurz vor dem Nervenzusammenbruch stand. Die zerrieben wurde zwischen dem Schrecken, Larissa halb tot gefunden zu haben, sie im Krankenhaus gesprochen zu haben, wo sie sterben würde, und meinen eigenen, zersetzenden Erinnerungen an die Kraft, die ich hatte aufbringen müssen, um dem Tod von der Schippe zu springen. Damals in Ägypten, mit zerrissenen Gliedern und offenen Wunden.
    Ich musste schreiben. Mich schreibend vergewissern, dass alles gut war, dass ich lebte, dass die Welt sich weiterdrehte, die Jahreszeiten in der richtigen Reihenfolge wechselten. Musste schreiben, um die Angst im Zaum zu halten. Um mit Hilfe der Motorik meiner rechten Hand aus dieser zerstörerischen Panik herauszukommen. Schreiben, bis mir der Stift aus der Hand fiel und ich so endlich Ruhe fände für eine oder zwei Stunden.
    Ich ging in die Küche, wo ich Kaffee aufsetzte und mich auf einen Stuhl kauerte, während die Kaffeemaschine blubberte. Meine Zähne klapperten.
    In diesem Zustand fand mich Nero.
    »Hallo?«, hörte ich ihn rufen. »Ist jemand da? Frau Laverde?«
    Ich hob den Kopf und krächzte: »In der Küche.«
    Er hatte mich nicht hören können. Ich konnte mich selbst nicht hören.
    »Kea?«
    Nero Keller stand in der Küchentür, in Jeans, weißem Hemd und Krawatte. Schon altvertraut. Seine Augen leuchteten wie sonnenbeschienene Bronze.
    »Kea! Was ist los?«
    Er forderte eine Antwort. Und merkte doch zugleich, dass ich keine zu geben in der Lage war.
    Mein Verstand verlangte von mir, den Mann ordentlich zu begrüßen und Konversation zu machen. Aber ich konnte nicht. Der Abgrund, in dem meine Seele sich verkrochen hatte, war zu tief. Meine Selbstdisziplin reichte nicht aus, um ein paar Oberflächlichkeiten in Gang zu setzen. Diesmal nicht.
    Ich wollte aufstehen, aber der Stuhl kippte um und ich mit ihm, oder umgekehrt, jedenfalls landete ich auf dem Boden. Über mir fauchte die Kaffeemaschine. Der stechende Schmerz in meinem lädierten rechten Knie gab mir den Rest. Ich hörte mich selbst schreien. Wie eine Hündin, die ihre Jungen verloren hat. Wie der Wind in der Arktis, der vor Einsamkeit heult.

15
    »Tango negro«, sagte Nero.
    »Wie bitte?«
    »Schwarzer Tango, bittersüß und traurig und schön. Voller Widersprüchlichkeiten. So wie Sie.«
    »Danke.«
    Wir hockten beide auf dem Boden, lehnten am Kühlschrank. Ich hatte mindestens eine halbe Stunde geweint. Jetzt fühlte ich mich entspannt und ruhig. Ich fror nicht mehr. Wärme und eine angenehme Müdigkeit durchfluteten meinen Körper. Peinlich war die ganze Sache trotzdem.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich daher.
    »Wissen Sie, wie die Psychologen das nennen?«
    »Was?«
    »Ihren Zustand. Sie nennen ihn einen isolativen Konflikt. Ein dramatisches Ereignis, das Sie unverarbeitet in Ihrer Seele herumschleppen, verselbstständigt sich. Es bricht aufgrund eines ähnlichen Schockerlebnisses wieder hervor und reißt alle Schutzmauern ein.«
    Ich zog die Beine an. Eben war mir Neros Schulter wie der wunderbarste Platz auf Erden vorgekommen. Jetzt wäre ich am liebsten ein Stück von ihm abgerückt.
    »Es ist normal, dass der Angriff von damals an Ihnen zehrt. Sie haben nie mit jemandem darüber gesprochen,

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