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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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übergesiedelt?«
    »Warum hätte ich das tun sollen? Dort gab es schon soziale Gerechtigkeit. Ich wollte mich im Westen dafür starkmachen.«
    Ich war diese Argumente leid. Über die Theorie kam ich an Juliane nicht heran. Gesellschaftspolitisch war sie absolut firm. Nur sprach sie nie über die praktischen Auswirkungen ihrer Überzeugungen auf ihre eigene Biografie. Berufsbedingt reizten mich diese besonders. Doch Juliane ließ nichts raus. Beharrlich behielt sie die Debatten auf dem grünen Tisch. Aber etwas nagte an ihr. Sie konnte nicht nur wegen der Gänse beleidigt sein. Nachbarschaftshilfe leistete sie gern. Juliane gab großzügig ab und forderte wenig ein. Etwas anderes musste sie aus der Bahn geworfen haben. Ich merkte es an dem unterschwelligen Zittern ihrer rechten Hand, als sie nach ihrer Tasse griff.
    »Na gut«, begann sie halblaut. »Es gab da einen Mann. 1968. Zden ě k. Einen Tschechen. Ich fuhr damals nach Prag, wollte mehr über Dub č ek und den Aufbruch wissen. Wir Linken waren damals mächtig gespannt, wie der Sozialismus des dritten Weges aussehen würde. Wir machten Pläne, diskutierten uns die Köpfe heiß. In Prag kannte ich ein paar Leute. 1968 durfte es in der Č SSR mehrere Parteien geben, und man konnte westliche Zeitungen kaufen.«
    »Wie großzügig.«
    Ihr Blick jagte mir einen Laserstrahl durch den Brustkorb.
    »Weißt du, damals waren wir alle politisch. Heute ist das anders. Die Jugend verdient Geld, hortet Aktienpakete und plant ihre Karriere. Chattet im Internet und zieht sich abends eine Linie rein, damit die Träume nicht zu kurz kommen. Hält sich für verarmt, wenn nicht wenigstens drei Urlaube pro Jahr drin sind. Ohne es werten zu wollen, aber die Welt hat sich verändert.« Juliane nahm Fahrt auf. »In der Gruppe, in der ich mich damals bewegte, gab es zwei unterschiedliche Meinungen. Die einen begrüßten die Veränderungen in der Č SSR , weil sie menschliche Erleichterungen brachten. Die anderen fürchteten, eine Öffnung verwässere die sozialistische Idee und sei allenfalls dann sinnvoll, wenn der Sozialismus sich einen sicheren Stand in Europa erkämpft hätte. Erst sollten die Leute stramme Parteigänger werden, ehe freies Gedankengut ihnen Flausen in den Kopf setzte.«
    »Mit diesem beschissenen Argument hat man ein gigantisches Gesellschaftsexperiment durchgezogen und Millionen ins Unglück getrieben.«
    Juliane sprang auf und zeigte mit ihrer Kaffeetasse auf mich. »Ja, verdammt! Ja! Willst du es unbedingt aus meinem Mund hören?« Sie schrie fast. Die Kreolen an ihren Ohren baumelten wild. Ich war nur froh, dass uns keiner sehen konnte. Wir hätten die Sitcom des Abends gegeben.
    »Glaubst du, ich habe das nicht kapiert? Dass die Partei ein Religionssurrogat war? Dass der Kommunismus nach 1945 in den osteuropäischen Ländern gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit brutal implantiert wurde? Weil Moskau das durchdrückte? Dass die Eliten sich über Loyalität zu den Genossen und zur Linie der Bonzen rekrutierten und nicht über Klugheit, Weitblick, Werte? Dass sie Privilegien hatten? Denkst du, ich war zu blöd, um den Schmus zu durchschauen? Ja! Die DDR war ein verdammt spießiger, bepisster Dachdeckerstaat.«
    »Setz dich, Juliane.«
    Sie ließ die Kaffeetasse einfach fallen. Sie zerbrach nicht.
    »Wir wollten Gerechtigkeit! Ge-rech-tig-keit, verflucht!«
    »Setz dich!« Allmählich bekam ich Angst um Julianes Herz.
    Sie ging zum Fenster und drehte sich zu mir um. »Also, dieser Zden ě k und ich, wir waren ein Paar. Er arbeitete als Journalist und lehnte sich in seinen Artikeln ziemlich weit aus dem Fenster. Er ritt auf der Welle des Prager Frühlings, euphorisch wie ein Dreijähriger. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es mit den neuen Freiheiten irgendwann vorbei sein würde. Seine Freunde mahnten ihn zur Vorsicht, aber Zden ě k schrieb alle Warnungen in den Wind. Dafür liebte ich ihn. Er war ein Held. Er hatte Mut. Wie blöd kann man sein.«
    »Keiner konnte ahnen, dass die Russen ihre Panzer schicken.«
    »Ein paar Leute haben genau das geahnt! Nicht alle glotzten durch die rosarote Brille. Als die Sowjets in der Nacht auf den 21. August einmarschierten, zogen Zden ě k und ich mit unseren Kameras los. Wir waren tagelang unterwegs, schliefen kaum, knipsten, was wir vor die Linse kriegten.«
    »Keine so gute Idee«, sagte ich, als Juliane nicht weitersprach.
    »Die Russen haben Zden ě k festgenommen. Ich habe gesehen, wie sie ihn wegschleppten. Er

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