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Fliehganzleis

Fliehganzleis

Titel: Fliehganzleis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frederike Schmöe
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einfacher Mensch. Bei ihrer sprunghaften Gefühlswelt wusste man nie, woran man war. Durchlebte sie eine Phase der Disharmonie, krachte ihre Stabilität zusammen und die Freundschaft mit ihr wurde zum Boxmatch.
    »Eierköpfchen, wie schön, dich zu sehen!« Klein und drahtig stand Juliane in ihrer Wohnungstür, das Haar frisch geschnitten, superkurz, die Kreolen baumelten in ihren Ohren, und der klassische Lidstrich aus den 60ern gab ihrem Gesicht etwas Vogelartiges. Sie war barfuß, trug Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift ›Zickenalarm‹.
    »Juliane, diese Shirts sind out.«
    »Pass mal auf, Herzchen. Ich brauche keine Modetipps. Wie läufst du überhaupt rum? Schlabberlook? War nichts mit Nero?«
    Juliane versuchte seit knapp einem Jahr, Nero und mich zu verkuppeln.
    »Doch.«
    »Will heißen?« Sie stemmte die Hände in die Seiten.
    »Ich … Mensch, Juliane, du … «
    »Kipp deine Zweifel auf den Sondermüll. Da gehören sie hin.« Ihr Zeigefinger schnellte hervor und drückte gegen mein Brustbein wie die Lanze eines römischen Legionärs.
    Ich verdrehte die Augen. Juliane nahm keine Rücksicht auf seelische Empfindsamkeit. Markige Sprüche waren ihre Spezialität, ihre schwere Artillerie.
    »Also wissense, nee. Falls du Konsens suchst, bist du auf dem falschen Boot. Ein gemeinsamer Entwurf ist doch schon was«, bemerkte sie spitz. »Konsens ist immer nur der kleinste gemeinsame Nenner.«
    »Danke für die Belehrung. Wenn du so genau Bescheid weißt, warum lebst du nicht mit einem Mann zusammen?«, fragte ich.
    »Ich brauche keinen Mann, ich habe einen Vibrator!« Sie trat zur Seite. »Komm rein!«
    Juliane lebte spartanisch. Sie hatte nur eine kleine Rente, brauchte nicht viel, kaufte sich ihre Klamotten bei Ebay und aß wenig.
    Ich berichtete ihr von den letzten Tagen und flocht dabei unterwürfigen Dank zwischen die Zeilen, dass sie meine Gänse versorgt hatte. Dabei waren die beiden anspruchslos wie Kieselsteine. Es genügte, sie morgens aus dem Stall zu lassen und sie nachts zum Schutz vor Fuchs und Marder wieder einzusperren. Futter fanden sie ausreichend auf der Weide.
    »Findest du nicht, dass sich diese Leute zu Heroen stilisieren?«, fragte Juliane, als ich geendet hatte.
    Ich lehnte an der Küchentür. »Du meinst die Fluchthelfer?«
    »Wen sonst!« Sie gab Kaffeepulver in den Filter, dass es nur so spritzte.
    »Das denke ich nicht«, widersprach ich.
    »Du solltest die andere Seite sehen.«
    »Welche: Die der Stasi-Schergen?«
    Ich hatte nicht die Absicht, Juliane zu verletzen. Sie war die letzte Sozialistin von Oberbayern, die letzte echte, ehrlich überzeugte. Von den Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, den zeitweiligen Finanzkrisen und Bankenskandalen fühlte sie sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass der Kapitalismus sich irgendwann selbst verdauen würde, auch dann, wenn er Soziale Marktwirtschaft hieß. Weil meine eigene Auffassung ihrer in weiten Teilen diametral entgegenstand, sprachen wir nie über Politik. Ich sah aus dem Fenster. Draußen deckte der Spätsommerhimmel sein samtenes Blau über das Hügelland.
    »Ich habe mit Nero telefoniert«, sagte Juliane, »und er hat mich, wie sagt ihr heute, gebrieft.«
    Das hätte ich mir denken können.
    »Warum hast du ihn einfach ziehen lassen?« Sie neigte den Kopf. Die Kreolen klirrten leise.
    »Wen?«, fragte ich dämlich.
    »Den Bullen«, Juliane verdrehte die Augen. »Wen sonst.«
    »Ich habe ihn nicht ziehen lassen. Er muss arbeiten.«
    Wir setzten uns an den Küchentisch. Eine ganze Weile saßen wir da und rührten in unseren Tassen. In der Ecke lehnte Julianes altes Jagdgewehr, ein Erbstück ihres Vaters.
    »Willst du auf die Pirsch?«, fragte ich und wies mit dem Kinn auf das Gewehr.
    »Ab und zu muss man die Dinger säubern.« Mürrisch griff sie nach der Büchse und betrachtete sie aufmerksam von allen Seiten. Ich spürte, wie ihre unausgegorenen Gefühle brodelten.
    »Wie verletzlich darf man sein?«, fragte sie schließlich, während sie die Waffe in den Schrank räumte. Sie fragte die Tasse, den Löffel, die Papierservietten. Nicht mich. »Du solltest nicht den Fehler machen, Verletzungen ausschließlich in Diktaturen zu erwarten.«
    »Darum geht’s doch nicht«, erwiderte ich. »In einem tyrannischen Staat verstößt man eben leichter gegen den Kodex. Und dann: autsch.«
    »Der Sozialismus wäre ein Weg gewesen, die Welt gerechter zu machen.«
    »Wenn du den Sozialismus so toll findest, warum bist du nicht in die DDR

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