Fliehganzleis
zwei Scheine in das Mäppchen mit der Rechnung. »Und die genug Geld haben, um jemanden zu bezahlen, der die Drecksarbeit macht.«
»Woher wissen Sie von mir?«
Torn stand auf. »Ich halte gewisse Personen unter Beobachtung. Zu meiner eigenen Sicherheit. Einen schönen Abend, Frau Laverde, und gute Heimfahrt in Ihr ländliches Idyll.«
Er hob den gesunden Arm, drehte sich um und ging zu den Fahrstühlen.
Ich blieb sitzen, starrte ihm mit offenem Mund nach. Erst die Kellnerin, die mich fragte, ob ich noch etwas trinken wollte, holte mich in die Wirklichkeit zurück.
»Nein, nein, danke«, sagte ich und tastete nach meinem Autoschlüssel. Eine Gruppe Männer mit Namenskärtchen um den Hals tauchte in der Lobby auf. Ich legte den Schlüssel vor mich auf den Tisch und besah meine Hände.
Torn war paranoid. Das musste an der Verstümmelung liegen. Es gab keine andere Erklärung.
34
Den folgenden Dienstag verbrachte ich mit Arbeiten im Haus und am Gänsestall. Ich tat alles, um gegen die Panik anzugehen, die sich in mir breitmachte wie eine Virusgrippe. Als ich gegen zwei Uhr durchgeschwitzt ins Haus kam, um zu duschen, blinkte der Anrufbeantworter. Meine Agentin Lynn Digas, die mich früher mit Aufträgen für Reisereportagen versorgt hatte, rief an, um nachzufragen, ob ich mich nicht wieder für diese Tätigkeit erwärmen könnte. Sie schmeichelte mir mit Attributen wie ›kompetent‹ und ›scharfsinnig‹. Anscheinend fand sie gerade niemanden, der über Wellnesshotels im Bayerischen Wald berichten wollte. Zusätzlich baten eine Frau von Antenne Bayern und ein Redakteur der Süddeutschen um Rückruf. Ich drückte auf ›Nachrichten löschen‹ und ging ins Bad.
Um kurz nach vier am Nachmittag holte ich Juliane in Ohlkirchen ab, um nach München zu fahren, wo wir in Berg am Laim Dagmar Seipert treffen wollten. Es war noch warm draußen. Abendlicher Dunst leckte das Blau des Spätsommerhimmels auf.
Auf dem Mittleren Ring wurde gebaut. Wir standen eine Weile im Stau und kamen eine Viertelstunde zu spät in der Berg-am-Laim-Straße an. Der chaotische Verkehr, der Straßenlärm, das grelle Läuten der Tram – der Wechsel zwischen dem verschlafenen Charme Rothenstayns, der Ruhe auf meiner Parzelle einerseits und der Münchner Hektik andererseits bekam mir gar nicht. Ich quälte mich mit der Entscheidung, Juliane von dem Treffen mit Torn zu erzählen, ließ es aber bleiben.
Dagmar Seipert, eine verhuschte, kleine Frau mit kinnlangen Haaren, die ihr Gesicht zu einem schmalen Medaillon zurechtschnitten, fremdelte zunächst, als sie uns hereinbat. Doch unter ihrer ablehnenden Oberfläche spürte ich ein überbordendes Redebedürfnis. Diese Frau, die 1969 kaum 20-jährig in den Westen geflohen war, strahlte Schwäche und Kraft zugleich aus. Sie saß uns auf einem scheußlich braunen Sessel gegenüber, mit zitternden Knien, die Hände zwischen die Schenkel geschoben. Nur ihre Augen funkelten herausfordernd, als hätte sie seit Jahren darauf gehofft, dass jemand ihr zuhörte. Richtig zuhörte. Im Prinzip hatte ich etliche Kunden, die aus diesem Grund eine Ghostwriterin beschäftigten: Sie wollten Aufmerksamkeit. Manche schafften es kaum, sich selbst ernst zu nehmen, da kam ihnen eine professionelle Biografin gerade recht.
»Ich bin für Larissa von Rothenstayn als Ghostwriterin tätig«, begann ich und fasste zusammen, wie ich an meine Informationen gekommen war. Dagmar Seipert schienen die Vorgeschichten nicht sonderlich zu interessieren.
»Ich war ein halbes Jahr in Stasi-Haft. Sie haben mich nur rausgelassen, weil ich bis zum Erbrechen bei meiner Geschichte blieb. Einer erfundenen Geschichte aus der Feder eines Mannes, der mein Fluchthelfer war. Erich, so nannte er sich.«
»Kennen Sie seinen wirklichen Namen?«, fragte ich.
»Nein.« Dagmar Seiperts Redefluss erstarb.
Julianes Anwesenheit machte mich nervös. Ich fühlte mich beobachtet und so zögerlich wie bei meinem allerersten Interview. Wenigstens hatte ich mich für diesen Termin zurechtgemacht. Lila Blazer zu frisch gewaschenen Jeans, das schwarze Haar locker hochgesteckt, eine violette Spange hielt die Ponyfransen aus der Stirn. Das schicke Outfit überspielte meine Unsicherheit. Doch Dagmar Seipert fand von selbst in ihre Geschichte zurück.
»Ich arbeitete in Leipzig in einer Klinik«, sagte sie. »Dort lernte ich Dr. Larissa Roth kennen. Sie nannte sich Roth, aber es kursierten Gerüchte, sie sei adeliger Abstammung und habe dann aus ideologischen
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